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Vom Pergament in den Computer
GEROlZHOFEN Er ist kein Gerolzhöfer und er ist kein Historiker. Doch gerade das kann sein großer Vorteil sein. Dr. Stephan Oettermann, der neue Stadtarchivar im Bürgerspital, läuft kaum Gefahr, voreingenommen an die papierne Ortsgeschichte heranzugehen.
Von unserem Redaktionsmitglied NORBERT FINSTER
 |  aktualisiert: 03.12.2006 22:29 Uhr
Vor der Ordnung kommt erst einmal die Unordnung. Im Archivraum im Erdgeschoss des Spitals stapeln sich dicke Bände, Urkunden und Aktenordner bis unter die Decke. Der neue Archivar hat nicht viel Platz, sich auszubreiten. Aber er hat viel vor. Nach und nach durchforstet er den Bestand. Er möchte zunächst einmal ein neues, elektronisches Findbuch für den gesamten Archivbestand erstellen. Das heißt, er wird die vorhandenen handschriftlichen Dokumente, teils noch auf Pergament, in den Computer umsetzen.

Bei Eingabe eines Schlagwortes werden am Ende Einträge aufgelistet erscheinen, die Antwort auf die Fragen "wer", "was", "wann" und "wo" geben. "Was meine Vorgänger bereits registriert haben, computerisiere und verschlagworte ich", erklärt der 54-Jährige. Über seine Vorgänger, angefangen vom Max Tschiggfrey über Otto Weigand bis hin zu Martin Frey ist er voll des Lobes. "Sie haben unendlich viel gearbeitet, abgeschrieben, Handschriften entziffert, übersetzt und gut lesbar gemacht. Ich fahre hier nur die Ernte ein", gibt sich der promovierte Literaturwissenschaftler bescheiden.

Ein Blick in einen der dicken, in Schweinsleder gebundenen Bände aus dem 15. Jahrhundert bestätigt das. Ein Mensch mit gängigen Lesekenntnissen steht da wie ein Analphabet, erkennt nur unbekannte Zeichen. Durch die klärende Vorarbeit der archivalischen Ahnen hat es Stephan Oettermann seit Juni zu rund 11 500 Einträgen gebracht.

Ein Beispiel: die Grumbacher Überfälle, ein den wenigsten Gerolzhöfern bekanntes Ereignis der Stadtgeschichte. Das Stichwort gibt sieben Einträge her. Einer verweist auf das grüne Stadtbuch, eines der ältesten Dokumente im Archiv. Damit kann der des Lesens solcher Schriften unkundige Sucher zunächst nicht viel anfangen, wohl aber mit dem Hinweis auf eine Abschrift von Max Tschiggfrey. Aus ihr geht hervor, dass sich der Überfall am 26. November 1563 ereignete.

Ein weiterer Grumbach-Eintrag listet alle Würzburger Bischöfe seit dem Jahr 741 auf, von denen einer den Namen Grumbach trug. Wieder ein anderer verweist auf einen Landrichter dieses Namens in Gerolzhofen.

Anderes Stichwort: Gerolzhöfer Frauenaufstand. Hier erfährt der Fragende sofort etwas zu den Hauptakteuren des 6. April 1945. Literatur darüber gibt es von Hans Freitag und Walter Lobenstein. In Gerolzhofen trägt eine Straße den Namen der Lehrerin Josefine Schmitt, die den Aufstand gegen die Nazis initiierte.

Apropos Nazis: Auf einem Nebenfeld seiner Tätigkeit beschäftigte sich Stephan Oettermann zurzeit mit dem Abfassen einer Chronik der Schützengesellschaft Gerolzhofen. Dabei stieß er auf Haarsträubendes. Im Jahr 1928 wurde Siegfried Krämer Schützenkönig in Gerolzhofen. Er war Jude. Deshalb ist sein Name wohl wenige Jahre später aus der Liste der Gerolzhöfer Würdenträger getilgt, der von ihm gestiftete Taler aus der Schützenkette entfernt und nie mehr eingefügt worden. "Von dem totgeschwiegenen Schützenkönig weiß heute niemand mehr etwas", sagt der Archivar.

Eine Übersicht will er auch in die so genannten Regesten bringen. Das sind im Archiv vorhandene auswärtige Dokumente, die sich mit Gerolzhöfer Bürgern befassen. Wenn das Findbuch fertig ist, soll es nicht nur im Computer gespeichert, sondern auch in ausgedruckter Form vorliegen.

Ein anders, selbst gesetztes Ziel des geborenen Detmolders, der 1995 nach Gerolzhofen gekommen ist: Er will ein Hausbuch konzipieren, mit einer Chronologie der Besitzer und möglichst mit Bildern zu jedem Haus im alten Gerolzhofen. Denkbar ist auch ein zusammenhängendes Taufregister. "Aus ihm könnte man ersehen, wer zum Beispiel einst nach Elek ausgewandert ist." Thema einer anderen Studie könnten schließlich Kirchenbau-Angelegenheiten sein. Über das Spital ist viel vorhanden im Archiv, auch über die einstigen Insassen, die Pfründner.

Die Devise in Stephan Oettermanns Arbeits ist jedenfalls klar: "Ich kann nicht monatelang über etwas sitzen, wo nichts herauskommt. Denn ich muss etwas abliefern." Das hat seinen Grund. Denn der Archivar hat diese Stelle auf der Grundlage einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) bekommen, hat also nicht den Status des Ehrenamtlichen wie seine Vorgänger. Dafür ist er Bürgermeister Hartmut Bräuer überaus dankbar: "Er hat sich sehr fürsorglich dafür eingesetzt."

Die Maßnahme ist vorerst auf ein Jahr begrenzt, doch ein zweites kann folgen. Das würde dem Heimatforscher aus der Fremde gut gefallen, dem man Begeisterung und Freude an der Arbeit anhört, wenn er davon erzählt.

Schließlich will Oettermann auch etwas für die Benutzer des Stadtarchivs tun. Er möchte ihnen einen eigenen Raum im Spital für ihre Forschungsarbeit herrichten. "Hier kann auch mal jemand etwas liegen lassen und am nächsten Tag weiterarbeiten."

Tausend Mal besser als Sixt

Und was ist, wenn alle diese Visionen umgesetzt sind? "Dann könnte ein Mensch ohne großen eigenen Forschungsaufwand die komplette Sozialgeschichte einer fränkischen Kleinstadt schreiben, die tausend Mal besser ist als die Chronik von Sixt."

 
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