Jeder Schritt und jedes Gespräch wird mit Mikrofonen und Kameras überwacht. Gewisse Räume dürfen nur betreten werden, wenn der soziale Status gut genug ist. Das erleben die Teilnehmenden von Healing, einem Kunstprojekt, das aktuell im Spitalseebunker stattfindet. Hinter dem Live-Rollenspiel steckt "denialofservice.fail", ein Team aus Kunst- und Kulturschaffenden, das der KulturPackt nach Schweinfurt brachte.
Sie haben sich die Frage gestellt, was mit Menschen passiert, die ständig überwacht werden und sich an das System anpassen müssen. Daraufhin haben sie Healing entwickelt. Die Spielsituation ist dramatisch und bewusst überzogen – aber nicht ganz aus der Luft gegriffen, erklärt Wanja Neite, der Healing mitorganisiert. So sei es etwa in China normal, dass Menschen nicht an bestimmten Veranstaltungen teilnehmen dürfen, wenn ihr sozialer Status zu niedrig ist.
Darum geht es bei Healing
Ich habe das Spiel Healing getestet und dabei wie alle anderen Teilnehmenden auch eine fiktive Figur gespielt. Doch worum geht es überhaupt? Eine fiktive Gesellschaft ist in fünf Klassen aufgebaut. Ein Auf- oder Abstieg ist jederzeit möglich. Das hängt davon ab, wie hoch oder niedrig der sogenannte "Lifescore" ist. Dazu bewerten sich die Menschen im alltäglichen Leben gegenseitig. Die fiktive Fernsehshow Healing ist für sie – und somit auch für mich – eine Chance, sich zu beweisen. Allerdings besteht auch die Gefahr, in die niedrigste Klasse abzusteigen.
Es geht los. In einer Dreiergruppe betreten wir den ersten Raum. Einer der fest Mitspielenden holt uns ab, gibt uns eine Führung durch die Räume, und kommt mit uns ins Gespräch. Er will wissen, wie wir in der Show gelandet sind. Ich erzähle, dass meine Familie schon immer einer niedrigen Klasse angehörte. Wohl weil ich zu faul war, muss ich an der Fernsehsendung teilnehmen. Ein anderer Spieler setzt gleich auf die große Show: Er stellt sich direkt vor eine Kamera, beginnt beinahe zu weinen, und erzählt, dass er ohne Vater aufgewachsen ist. Healing sei für ihn die Möglichkeit, ihn endlich zu finden.
Wir spielen "Wahrheit oder Pflicht" und modeln auf einem Laufsteg
Dann ertönt eine bedrohlich wirkende Stimme durch die Lautsprecher. Alle sollen sich sofort in einem Raum versammeln. Ein Beamer projiziert dort unseren aktuellen Lifescore an die Wand. Diese Szene wird sich mehrmals wiederholen. Jedes Mal werden dann die Werte aller 30 Teilnehmenden nacheinander aktualisiert. Das erzeugt Spannung. Jedes Mal bibbert man, ob man sich selbst verbessert hat, und wie die anderen abschneiden.
Später bin ich im Raum der Wahrheit und spiele dort mit meinem Hauptspielpartner namens Prophet "Wahrheit oder Pflicht", oder wir stellen uns gegenseitig "Entweder-Oder-Fragen". Es sind keine Fragen aus dem echten Leben, sie sind angepasst an das Spiel. Die Fragen haben etwa das Ziel, die Systemtreue zu testen. Ein Beispiel: Würdest du deine Familie besser bewerten, als sie es eigentlich verdient hätte, um sie vor einem Abstieg in eine niedrigere Klasse zu schützen?
Außerdem träumt die von mir gespielte Figur davon, berühmt zu werden. Deshalb nutze ich in einem anderen Raum den Laufsteg, um mein Talent zu modeln für die Online-Spielenden und das fiktive Fernsehpublikum unter Beweis zu stellen. Und tatsächlich. Die Show kam an. Bei der nächsten Wertungsrunde steigt mein Lifescore.
Ein heftiger Streit bricht aus
Dann gerate ich in einen Streit mit üblen Beleidigungen, Remplern und einer Kissenschlacht. Die Worte sind heftig, aber auch der Streit ist ja nur gespielt. Am Ende versöhnen wir uns halbherzig – und für mich kommt es sogar noch besser. Mein Spielpartner Prophet und ich stellen in der coronakonformen Speed-Dating-Kabine fest, dass wir in der Spielshow nicht so weit gekommen wären, wenn wir nicht zusammengearbeitet hätten. Wir beschließen, unseren Lebensweg auch nach der Fernsehshow gemeinsam weiterzugehen.
Zum letzten Mal werden alle versammelt, um die endgültigen Lifescores zu erhalten. Meine Werte sind erfreulicherweise besser als zu Beginn der Show – den Aufstieg in eine höhere Klasse schaffe ich trotzdem nicht, obwohl ich mich meistens systemtreu verhalten habe. Aber die Stimme aus dem Lautsprecher teilt mir mit, dass ich "Healing" verlassen darf – im Gegensatz zu manch anderen, die bewusst gegen das System rebellierende Figuren gespielt haben.
Was mir nach dem Spiel nachts durch den Kopf geht
Nach sechs Stunden ist das Spiel vorbei. Nach und nach gelange ich wieder in eine andere, die normale Welt. Zum Glück war das ganze nur Fiktion, und nicht unsere wirkliche Welt, denn ich bemerke, wie schnell man sich einem System anpassen kann, wenn bei Rebellion eine Bestrafung droht. Und es beeindruckt mich, dass man sich anders verhält, wenn man nicht genau weiß, ob einem jemand gerade zuhört und zusieht, und wer.
Und Healing begleitet mich auch am Abend weiter. Der Slogan "In LIS we trust" (LIS=Lifescore), "Wir vertrauen auf den Lebensscore", geht mir noch die ganze Nacht durch den Kopf. Genauso wie die Melodie der fiktiven Nationalhymne, die wir mehrmals lautstark gesungen haben, um unsere Systemtreue auszudrücken.
Liverollenspiele: Alle können es ausprobieren
Healing, mein erstes Rollenspiel, hat bei mir also Eindruck hinterlassen. Und es hat wirklich Spaß gemacht. Auch wenn ich es vorher nicht geglaubt hätte, ich würde sofort wieder an einem Live-Rollenspiel teilnehmen. Und ich würde es allen weiterempfehlen, um Erfahrungen zu sammeln, kreativ zu werden, oder für die Zeit des Spieles der Alltagswelt zu entfliehen. Denn ich habe gelernt, dass Rollenspiele faszinieren können. Schauspielerisches Talent ist übrigens nicht nötig – denn als wir in der Pause kurz geredet haben, ist mein Spielpartner Prophet überrascht, dass ich zum ersten Mal spiele.