Zwei Fotobücher liegen auf dem Wohnzimmertisch. Vater Peter Konrad schlägt eines auf. Blättert, kommentiert einige Bilder. Mit Tränen in den Augen. Auf allen Fotos ist der älteste Sohn der Familie abgebildet. Julian. Freunde und Kollegen von ihm haben die Seiten gestaltet. Sie zeigen Julian als Kind bei Familienfeiern, als Jugendlichen auf Festen. Julian beim Fasching, bei der Feuerwehr, auf Ausflügen. Bilder aus einer glücklichen Zeit, die für die Familie aus Garstadt im Landkreis Schweinfurt am 28. Februar 2019 mit einem Schlag endet.
An jenem verhängnisvollen Donnerstag bereitet sich Julian, 21 Jahre alt, Polizeischüler, in Zimmer 14 der Kaserne der Bereitschaftspolizei in Würzburg mit einem 19-jährigen Kollegen auf eine Wachschicht vor. Die zweite an diesem Tag. Gegen 21.30 Uhr fällt aus der Waffe des 19-Jährigen ein Schuss. Ermittler werden später zu dem Ergebnis kommen, dass dem Schuss ein simulierter Waffeneinsatz vorausgegangen sein soll. Der Schütze soll davon ausgegangen sein, seine Waffe sei entladen gewesen.
Wie die Eltern informiert wurden
Julians Vater Peter ist an jenem Donnerstagabend bei einer Sitzung im Vereinsheim des FC Garstadt, als zwei Polizeibeamte und ein Seelsorger an der Tür des Einfamilienhauses am Ortsrand klingeln. Mutter Katja Konrad holt die Erinnerung daran zurück, um Fassung bemüht: "Sie sagten, sie müssten mich leider darüber informieren, dass mein Sohn angeschossen wurde." Sie habe nachgefragt. Die Kugel, so hätten die Beamten berichtet, habe Julian in den Kopf getroffen, er sei lebensgefährlich verletzt.
Als Katja und Peter Konrad in der Würzburger Universitätsklinik ankommen, ist Julian schon hirntot. Sein Ausbildungsleiter ist auch im Krankenhaus. "Ich habe ihn direkt gefragt, wie so was passieren kann", sagt Peter Konrad bitter. Bis heute ist diese Frage aus Sicht der Eltern nicht ausreichend beantwortet – im Gegenteil: Es sind neue Fragen hinzugekommen.
Am nächsten Tag werden die Maschinen, die Julian am Leben halten, mit Einverständnis der Eltern abgestellt. "Es gab keine Hoffnung mehr. Auch wenn Julian ausgesehen hat wie immer", sagt Katja Konrad. "Wir haben ihn umarmt und uns verabschiedet."
Als "surreal" empfinden die Eltern im Rückblick die folgenden Tage, in denen sie auf das Ergebnis der Autopsie und die Freigabe von Julians Leiche warten. "Die ersten Nächte habe ich in Julians Bett geschlafen", sagt Katja Konrad. "Wir haben uns aber nicht abgeschottet." Der Vater ergänzt: "Von früh bis spät waren Leute da."
Verwandte, Freunde und Nachbarn besuchen die Konrads, drücken ihr Beileid aus. "Währenddessen hat man nur funktioniert", sagt die Mutter auch mit Blick auf Julians zwei jüngere Brüder. Der mittlere, Timo, sei auch nach anderthalb Jahren noch nicht am Grab gewesen – "er kann es nicht". Der jüngste, Luca, kam mit dem Downsyndrom zur Welt. "Er kann seinen Schmerz nicht ausdrücken, war aber oft mit Tränen in den Augen dagesessen." Auch als Polizeischüler sei Julian jeden Tag zuhause vorbeigekommen. Nun hängen nur noch Fotos von ihm an der Wand des elterlichen Wohnzimmers.
Beerdigung mit rund 700 Trauernden
Vater Peter Konrad blättert weiter in den Fotobüchern. Julian von Freunden umringt, Julian an der Seite seiner Freundin. "Er ist wenigstens glücklich gestorben." Und immer wieder Julian beim Fußball. Als Fan im Stadion oder mit seinen Mannschaftskameraden des TSV Bergrheinfeld und später im Trikot des FC Garstadt. Julian als Torschützenkönig eines Hallenturniers, Julian als Aufstiegsheld. "Kurz nach Abpfiff und die Frisur sitzt, da hat er immer Wert drauf gelegt", sagt Peter Konrad und schmunzelt. Ein stolzer Vater, ein tieftrauriger Vater.
Zwölf Tage nach Julians Tod findet in Garstadt die Beerdigung statt. Rund 700 Trauernde drängen sich auf dem kleinen Friedhof der 400-Seelen-Gemeinde. Auch hier spielt der Fußball eine Rolle: Bei seinen Freunden hatte Julian den Spitznamen "Gomez", der ehemalige Nationalstürmer war sein großes Vorbild. Als Mario Gomez vom tragischen Tod des "Gomez von Garstadt" erfährt, schickt er ein Trikot mit der Widmung "Ruhe in Frieden". Kollegen bringen es zur Trauerfeier mit.
Die Eltern verarbeiten ihren Verlust unterschiedlich. Mutter Katja geht nach vier Wochen wieder arbeiten. Der Vater bleibt fünf Monate krankgeschrieben. "Jetzt arbeite ich wieder und das tut auch gut." Verarbeitet hat er den Tod seines Sohnes noch lange nicht. Die Gedanken an Julian "sind von früh bis abends da".
Eine Woche vor seinem Tod äußerte Julian Respekt vor der neuen Dienstwaffe
Dazu kommen andere Gedanken. Einige Monate vor Julians Tod hatte ein Arbeitskollege Peter Konrad erzählt, er habe gelesen, dass die Polizei neue Waffen einführe. Und dass es Zweifel an deren Sicherheit gebe. "Ich habe damals geantwortet: Das sind Profis, was soll schon passieren?", sagt Peter Konrad kopfschüttelnd.
Und dann war da dieses Gespräch mit Julian eine Woche vor dessen Tod. Unbeabsichtigt hatte damals ein Polizist in einem Büro der Bereitschaftspolizei in Würzburg einen Schuss abgegeben. Die Kugel hatte ein Fenster durchschlagen. Der Polizist sei davon ausgegangen, seine Waffe sei ungeladen, hatte es danach geheißen. "Julian hat uns davon erzählt", sagt der Vater. "Er hat dabei gesagt, dass er Respekt vor der neuen Waffe hat. Wie passt das zu dem, was im Gericht erzählt wurde?"
Im Gericht – also im Prozess gegen den Polizeischüler, der Julian tödlich traf. In diesem Juli wurde der mittlerweile 21-Jährige nach Jugendstrafrecht wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr und drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein.
Das Gericht glaubte einer Aussage des Angeklagten, wonach er und Julian in dessen Stube vor Beginn ihrer Wachschicht um 22 Uhr einen Schusswaffeneinsatz in Richtung Fenster simuliert hätten. Julian habe demnach mit angelegter Waffe "Deut-Schuss" – also ziehen, anlegen, sofort schießen – gerufen. Daraufhin, so der Angeklagte, habe er seine eigene Waffe aus dem Halfter gezogen und abgedrückt.
"Es kam uns vor als sei Julian Mitangeklagter", sagt Peter Konrad wütend. In seiner Urteilsbegründung habe der Richter eine Mitverantwortung des Opfers betont. "Was wirklich passiert ist, weiß nur der Schütze – und Julian, aber der kann es nicht mehr erzählen", sagt Peter Konrad. Bei der Aufnahmeprüfung setze die Polizei Reife voraus, jetzt spreche das Gericht von "Leichtsinn". Und der Richter habe gesagt, in dem Alter spiele man halt noch mit Waffen. "Wie passt das zusammen? Man fühlt sich verarscht."
Zahlreiche offene Fragen
Für Julians Eltern sind viele Frage unbeantwortet: "Muss es sein, dass Polizeischüler innerhalb von 24 Stunden 16 Stunden Wachdienst haben? Wie kam die Waffe geladen ins Zimmer? Warum gab es keine Kontrollmechanismen, die das verhindern? Wie oft passiert es, dass bei der Polizei jemand unabsichtlich schießt, ohne dass es jemand mitbekommt?"
Ihr Anwalt Jürgen Scholl spricht von einer "extrem unzureichenden Aufklärung" der Ereignisse durch das Gericht. So habe der Angeklagte bereits um 14 Uhr, nach dem Ende seiner ersten Wachschicht an diesem Tag, seine Magazine abgegeben, aber die Kugel im Lauf der Waffe gelassen. Laut Scholl fragte ein Beamter an der Wachstation beim Angeklagten nach, ob er seine Waffe entladen und kontrolliert habe. Der Polizeischüler, der später zum Schützen wurde, soll das bejaht haben. "Das Gericht hat den Beamten aber nicht als Zeugen gehört", obwohl er zur Verhandlung gekommen und zur Aussage bereit gewesen war, ärgert sich Scholl. Weitere Zeugen des Wachdienstwechsels seien gar nicht geladen gewesen.
"Vollumfängliche Aufklärung" versprochen – Kritik an Staatssekretär Eck
Von Seiten der Polizeiführung sei der Familie "vollumfängliche Aufklärung" zugesichert worden. Der Präsident der Bereitschaftspolizei hatte den Konrads zuletzt geschrieben: Man sei "dabei, die Waffen- und Schießausbildung nochmals zu verbessern und den Umgang mit Waffen noch sicherer zu gestalten. Die Details würden wir Ihnen gerne bei einem persönlichen Gespräch darstellen".
Das Schreiben ist vom Februar. Inzwischen wurde eine interne Ermittlungsgruppe gebildet. "Da haben wir aber noch nichts gehört", so Peter Konrad. Auch der aus dem Landkreis Schweinfurt stammende Innenstaatssekretär Gerhard Eck (CSU) habe der Familie Antworten versprochen. "Er war hier gesessen", sagt der Vater und tippt auf den Wohnzimmertisch. "Passiert ist nichts." Sein bitteres Fazit: "Die bayerische Polizei gibt keine Fehler in ihrer Organisation zu. Das nervt mich brutal."
Grüne stellen 23 Fragen an Staatsregierung
Antworten will auch der Garstadter Landtagsabgeordnete Paul Knoblach (Grüne). Er hat der Staatsregierung einen Katalog mit 23 Fragen zu dem Fall geschickt. Darin will er unter anderem wissen, ob "generelle Versäumnisse beim Ablauf der Waffen- und Schießausbildung vorhanden sind" und welche Maßnahmen die Staatsregierung ergreift, "um zu verhindern, dass sich ein solcher Fall" in der Polizeiausbildung "wiederholt". In den kommenden Tagen erwartet er eine Antwort.
Knoblach ist ein Cousin von Katja Konrad. "Natürlich bin ich persönlich betroffen, weil ich zur Familie gehöre und mitbekommen habe, wie mein Heimatdorf über Tage verstummt war", erklärt er. Als Abgeordneter sehe er sich aber in der Verantwortung: Schließlich gebe es "Lücken, die bisher nicht geschlossen wurden". So habe es etwa "zur Verantwortlichkeit der Ausbilder und denkbaren Fehlern in der polizeilichen Organisationsstruktur kaum Aussagen" gegeben.
Waren Opfer und Schütze befreundet?
Die Konrads glauben, dass ihre Fragen "nur über öffentlichen Druck" beantwortet werden. "Julian kann nicht zurückgeholt werden", sagt Katja Konrad. "Es geht nur darum, dass sich sowas nicht wiederholt." Auch das Strafmaß sei zweitrangig: "Uns ist nicht damit geholfen, wenn der Schütze nie mehr einen Fuß auf den Boden bekommt."
Eng befreundet, wie immer wieder berichtet wurde, seien Julian und der Schütze nicht gewesen. Auch waren sie keine Stubenkameraden. "Er kam aus dem Nachbardorf, sie kannten sich, waren Arbeitskollegen, ab und zu haben sie zusammen gefeiert oder waren mal im Stadion. Aber er war nie bei uns daheim", sagt Katja Konrad. Die Mutter des Schützen hat der Familie einen Brief geschrieben. Die Konrads aber wollen lieber auf Abstand bleiben, auch wenn die Mütter gemeinsam zur Schule gingen.
Peter Konrad blättert in den Fotobüchern. "Ich zeige die Fotos von Julian, weil ich will, dass Sie verstehen, was für ein Mensch er war." Kollegial, hilfsbereit, diplomatisch, überall beliebt, so beschreiben die Eltern ihren Sohn. Gute Voraussetzungen für den Polizistenberuf. Da sind die Bilder von Julian in Uniform: "Es war sein Traumjob. Schon beim Kinderfasching war er oft als Polizist unterwegs", sagt Katja Konrad.
Die letzten Seiten zeigen Fotos vom ersten Spiel des FC Garstadt nach Julians Tod. Die Mannschaft in schwarzen Trikots, alle tragen die Gomez-Nummer 33. Das Trikot, das der Fußballer nach Garstadt geschickt hat, hängt jetzt gerahmt bei den Konrads im Flur.
Das soll nicht die katastrophale Tragik dessen schmälern, was passiert ist. Aber über "Unreife" rumschimpfen sollte nur der, der als ausgereifte, gefestigte Persönlichkeit in die eigene Ausbildung gestartet ist und da nichts mehr dazulernen musste!
Alles weitere ist irrelevant....
Gleichzeitig waren beide Polizei-AZUBIS, also noch in Ausbildung, noch unter Aufsicht, noch nicht vollkommen alleinverantwortlich für ihr Tun.
Von daher finde ich die Anfragen der Familie Konrad völlig nachvollziehbar.
Das ist doch alles Erbsenzählerei. Das Gericht hat geurteilt. Zwei Leben wurden zerstört ...eines unwiederbringlich.
Welch ein Unglück.
Vermutlich wird niemals tiefer gebohrt werden! Niemand wird Fehler eingestehen wollen. Man kann nur hoffen, dass intern in aller "Heimlichkeit" die Dinge geändert werden die mit zu diesem Unglück geführt haben.
Letztlich wurden zwei Familien zerstört, mit dem Unterschied, dass eine Familie einen Toten zu beklagen hat!
Am Ende kann man nur allen Beteiligten wünschen, dass irgendwann trotz des Geschehens auch glückliche Tage folgen.
Soweit ich mich Erinnere; gabs weder Waffe noch Scharfe Mun auf Stube.
....weshalb Polizeischüler das auf Stube haben????