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Schweinfurt
Drogen und Gewalt: So hilft die Streetwork Schweinfurt Jugendlichen
Immer wieder fallen junge Menschen durch das soziale Raster. Die Corona-Pandemie hat dieses Problem weiter verschärft. Wie die Streetwork Schweinfurt den Betroffenen hilft.
Eine Jugendliche betritt das Büro der Streetwork Schweinfurt in der Roßbrunnstraße. 
Foto: Anand Anders | Eine Jugendliche betritt das Büro der Streetwork Schweinfurt in der Roßbrunnstraße. 
Marcel Dinkel
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:26 Uhr

An einem langen Holztisch sitzt eine junge Frau und schaut angestrengt auf ein Blatt Papier. Gründlich wandern ihre Augen von Zeile zu Zeile. Auf der grünen Wandtafel neben ihr steht in Großbuchstaben mit bunter Kreide groß "Corona sucks" (Corona stinkt) geschrieben. Daneben hängen dutzende Zettel an der Wand. Manche der Telefonnummern und Adressen darauf sind bunt markiert und umkringelt.

Dass sie heute hier sitzt, ist alles andere als selbstverständlich. "Ich war kurz davor, mich selber aufzugeben", erzählt die heute 27-Jährige. Als Jugendliche zieht sie früh von zu Hause aus und wird schwanger. Ihr damaliger Freund, von dem das Kind stammt, ist alkoholkrank und greift neben der Flasche mit der Zeit auch nach ihr. Genug von den andauernden Gewaltexzessen, flieht sie in ein örtliches Frauenhaus. Wegen ihres eigenen Drogenkonsums kann sie dort allerdings nicht lange bleiben. "Ich war obdachlos, ich hatte kein Geld, ich war nicht versichert – ich hatte gar nichts", sagt sie mit resignierter Stimme.

Ihr gegenüber sitzt eine Frau mit Piercing an der Unterlippe und mehrere Tattoos auf dem Arm. Julia Siebenhaar von der Streetwork Schweinfurt hört täglich solche Geschichten. Geschichten von Menschen, die durchs gesellschaftliche Raster fallen, die ohne Familie, ohne Freunde und mit harten Schicksalen eines Tages plötzlich alleine dastehen. Viele von ihnen finden, wenn sie Glück haben, den Weg zu ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen in die Roßbrunnstraße 12.

Jugendliche und junge Erwachsene leiden unter den Bedingungen der Pandemie

Julia ist die Koordinatorin, die erste Ansprechpartnerin der Streetwork. Seit über sechs Jahren hört die gelernte Erzieherin und studierte Sozialarbeiterin jedem und jeder einzelnen, die hier herkommen, geduldig zu. Sie weiß, mit welchen Problemen junge Menschen in Schweinfurt zu kämpfen haben. Und die Liste der Probleme ist lang.

"Die Probleme, die die Menschen haben, die hier herkommen, sind nicht auf der Wiese zu lösen."
Julia Siebenhaar, Koordinatorin der Streetwork Schweinfurt.

Drogenmissbrauch, psychische Probleme, Wohnungs- und Obdachlosigkeit. "Der Bedarf in Schweinfurt ist anders als in größeren Städten", sagt Siebenhaar. Vor allem die Einzelarbeit mit jeder Person sei zeitintensiv und habe durch Bürokratie und Digitalisierung in den vergangenen Jahren weiter zugenommen. "Die Probleme, die die Menschen haben, die hier herkommen, sind nicht auf der Wiese zu lösen", sagt Siebenhaar. Viele Jugendliche und junge Erwachsene haben keinen Computer oder Drucker. "Manche sind noch nicht mal regelmäßig über ihr Mobiltelefon erreichbar und brauchen Hilfe bei Dingen des alltäglichen Lebens."

Die Pandemie tut ihr Übriges. Junge Menschen sind in vielfacher Weise durch sie in ihrem Leben, ihren sozialen Bezügen, ihren Bildungsmöglichkeiten und ihren Zukunftsperspektiven tangiert. Zu diesem Ergebnis kommen zahlreiche Studien, die während der vergangenen zwei Jahre durchgeführt wurden. Auch Siebenhaar fürchtet, dass viele sich dadurch weiter isolieren und es noch schwerer haben, auf die Beine zu kommen.

An einer Wand hängen zahlreiche Briefe und Bilder von Betroffenen, die dankbar über die Arbeit der Streetwork sind.
Foto: Anand Anders | An einer Wand hängen zahlreiche Briefe und Bilder von Betroffenen, die dankbar über die Arbeit der Streetwork sind.

Plötzlich klingelt es an der Tür. Ein jüngerer Mann in Jogginghose mit Camouflage-Muster steht davor. Er wirkt etwas verloren, als er den Grund seines Besuchs erklärt. Auch er wird von Julia und den Streetworkern betreut. Seit Corona muss jeder Termin vorher abgesprochen sein. Nicht ganz einfach, da viele der Klientinnen und Klienten nur schwer über ihr Handy erreichbar sind. Um so mehr ist die Streetwork darauf angewiesen, den persönlichen Kontakt zu halten. "Einige kommen wie sie es gerade schaffen und für nötig halten", sagt Siebenhaar.

Das ist auch einer der Gründe, warum die Streetworkerinnen und Streetworker neben ihrer lockeren Art auch mal klare Ansagen machen müssen, um zu den jungen Menschen durchzudringen. Letzteres fällt der 40-Jährigen, die mal Polizistin werden wollte, nicht besonders schwer. Die Erfahrung aus anderen Arbeitsbereichen wie der Lebenshilfe und dem Kindergarten helfen ihr dabei, auf Augenhöhe mit den Menschen zu sprechen. Und die zeigen sich dankbar. Auf einer Pinnwand mit Briefen fasst eine betreute Person das so zusammen: "Hilfe, Hoffnung, ein offenes Ohr." Darüber zahlreiche Bilder, auf denen Jugendliche fröhlich in die Kamera grinsen. 

Die Streetworkerinnen und Streetworker in Schweinfurt: (von links) Alexander Krüger, Clarissa Krempel und Julia Siebenhaar.
Foto: Anand Anders | Die Streetworkerinnen und Streetworker in Schweinfurt: (von links) Alexander Krüger, Clarissa Krempel und Julia Siebenhaar.

Die Mehrheit der Menschen, die vom Team der Streetwork unterstützt werden, ist ohne Arbeit, ohne Eltern, ohne Wohnung und hat einen anderen Lebensalltag. Viele hüpfen von Couch zu Couch und schlafen jede Nacht bei einer anderen Person. Das Thema Wohnraum sei für viele von ihnen ein großes Problem in Schweinfurt, sagt Siebenhaar. "Fast alle, die hier hereinkommen, haben schon mal Wohnungsprobleme in ihrem Leben gehabt."

Andere leiden unter psychischen Beeinträchtigungen, haben Gewalt erfahren, sind missbraucht oder vergewaltigt worden. Die Folgen sind finanzielle Probleme, Straftaten und der langsame Ausstieg aus der Gesellschaft. Eine Spirale aus der viele ohne fremde Hilfe nur schwer wieder rauskommen. Zusätzlich zur Arbeit in der Anlaufstelle verbringen die Streetworkerinnen und Streetworker auch Zeit auf der Straße, um dort aktiv Kontakt zu suchen und sich bekannt zu machen.

"Wir sind mobil und sehr flexibel", beschreibt Siebenhaar ihre Arbeit. Egal ob bei Gerichtsterminen, Hilfe bei Bewerbungen oder als Begleitung zur Schuldner- und Insolvenzberatung: Siebenhaar und ihre Truppe begleiten ihre Klientinnen und Klienten, wo sie können. Auch auf öffentlichen Plätzen findet man die Streetworkerinnen und Streetworker. Zum Beispiel im Theaterpark. Dort treffen sich die jungen Menschen oft, um dieser Tage nicht alleine zu sein, erklärt Siebenhaar. "Wir sind ein gemischtes Team, haben eine lockere Art und den Zugang zu den Menschen, welchen andere Beratungsstellen am Schreibtisch so nicht bieten können."

Die 27-jährige Frau vom Anfang dieses Textes ist spürbar dankbar für die Arbeit der Streetwork. "Ich bin immer hier, wenn ich Hilfe brauche, egal bei was. Wenn Julia nicht wäre, wäre ich gar nicht mehr hier, und ich bin froh, dass es solche Stellen gibt." Ihr Ziel sei es, irgendwann hierher zu kommen und zu sagen "Hey hör mal, ich habe meine Arbeit, mein Leben und alles wieder im Griff."

Streetwork Schweinfurt

Die Streetwork Schweinfurt befindet sich mit ihrer Anlaufstelle in der Roßbrunnstraße 12. Neben der individuellen Beratung suchen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auch den persönlichen Kontakt zu Jugendlichen und junge Erwachsenen im Alter zwischen 14 und 27 Jahren. Hilfesuchende werden in Fragen des Existenzminimums,  der Gesundheit, der Ausbildung und Beschäftigung sowie in der allgemeinen Lebenslage beraten und unterstützt. Ziel der Arbeit ist es, Betroffene letztlich in ein selbstständiges und organisiertes Leben zurückzuführen.
Die Streetwork arbeitet mit Partnern wie dem Jobcenter, Sucht- oder der Schuldner- und Insolvenzberatung zusammen, um jungen Menschen einen Wiedereinstieg in das gesellschaftliche Leben zu ermöglichen oder einfach eine helfende Hand zu reichen. Die Streetwork ist ein Fachbereich des Haus Marienthals und wird städtisch und mit Fördergeldern des Europäischen Sozialfonds finanziert und unterstützt. Seit 2016 bietet die Streetwork im Rahmen des Programms „Jugend stärken im Quartier“ eine Wohnung für junge Menschen an, die Obdach brauchen.
Im Jahr 2020 suchten 1572 junge Menschen Hilfe bei den StreetworkerInnen. Pandemiebedingt konnten keine „offenen Türen“ geboten werden. In den Jahren vor der Coronakrise stiegen die Besucherzahlen in der Anlaufstelle kontinuierlich auf über 2000 Kontakte pro Jahr (2019). Hier sind die Kontakte über Soziale Medien, Handy oder andere Kommunikationswege nicht mit einberechnet.
Quelle: Streetwork Schweinfurt
 
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Kommentare
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  • bertgs
    Die Leistungen der Streetworker sind wertvoll und wichtig. Aber leider zu wenig beachtet und durch Vorgänge wie dem geplanten legalisieren von "weichen" Drogen erschwert.
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  • Schmetterling
    Super! Ein Bericht der schon lange überfällig war. Bitte viel mehr Berichte über Jugendliche und ihre Belange!
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