Michael Roth ist mit seinem Zeitplan in Verzug. 20 Minuten kam der vorherige Angeklagte zu spät. Der Schweinfurter Jugendrichter lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn sein Terminplan - am Vormittag die Heranwachsenden, am Nachmittag die Jugendlichen - straff ist. Ein bekanntes Gesicht sitzt da jetzt vor ihm, 20 Jahre alt. "Was soll ich dazu sagen, Herr Roth?", fragt der junge Mann den Jugendrichter zurück, als dieser wissen will, was er zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft sagt.
Trotz Hausverbots soll er sich zweimal Zutritt zu einer Disco in Schweinfurt verschafft haben. Seine Erklärung: Er habe halt Spaß haben wollen. Der Gerichtsprozess ist nicht sein erster, Roth für ihn kein Unbekannter und auch die Jugendstrafanstalt in Ebrach kennt er bereits. Wegen der Vorstrafen hätte die Anklage eigentlich zum Jugendschöffengericht erhoben werden sollen, doch die Staatsanwaltschaft entschied sich dagegen. "Das ist nett von denen. Brutal nett", sagt Roth. Ob der 20-Jährige das nicht auch verdammt nett finde, fragt er. Der junge Mann nickt.
Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Realität
Michael Roth kennt diese Fälle, also Jugendliche oder Heranwachsende, die immer mal wieder auf der Anklagebank sitzen, gut. Und dennoch seien sie eher die Ausnahme, sagt er später in seinem Büro. "Der Standardkandidat kommt einmal, vielleicht ein zweites Mal. Den meisten reicht es eigentlich schon, wenn sie erwischt werden, die Mutter geschimpft hat und die Polizei auch noch da war", sagt Roth, der seit 18 Jahren als Jugendrichter tätig ist.
Thesen wie "Die Jugend wird immer schlimmer" könne er nicht bestätigen. Und überhaupt, sinke die Jugendkriminalität seit Jahrzehnten. Es herrsche eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und der Realität, zu der die Medien mit ihrer Berichterstattung über Straftaten beitragen würden. Fälle wie der Mord in Bad Neustadt, bei dem Roth Ermittlungsrichter war und die damaligen Beschuldigten - 19 und 21 Jahre alt - vernommen hatte, seien "die absolute Ausnahme".
Zahlen aus der Region Main-Rhön folgen bayernweitem Trend
Zahlen der Bayerischen Polizei bestätigen Roths Annahme. Die Anzahl der jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und heranwachsenden (18 bis 21 Jahre) Tatverdächtigen in Bayern ist innerhalb der vergangenen zehn Jahre deutlich gesunken (-23,4 Prozent und -28,6 Prozent), bei Kindern (bis 14 Jahre) weniger deutlich (-15,2 Prozent). Das geht aus dem Bericht "Kriminalität und Viktimisierung junger Menschen in Bayern 2021" der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei (KFG) hervor.
"Die Zahlen folgen einem bayernweiten Trend", heißt es aus dem Polizeipräsidium Unterfranken auf die Frage, wie die Lage in der Region Main-Rhön einzuschätzen sei. Vergleicht man die Zahlen aus 2012 mit denen von 2021 (für 2022 gibt es laut Polizei lediglich Tendenzen), so zeigt sich, dass die Tatverdächtigen-Zahlen der Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden sowohl in der Stadt Schweinfurt als auch im Landkreis Schweinfurt, dem Landkreis Rhön-Grabfeld und dem Landkreis Bad Kissingen deutlich gesunken sind. Zu den häufigsten Delikten gehören laut Polizei Unterfranken Ladendiebstahl, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und (einfache) Körperverletzung.
"Im Jugendbereich gehört ein 'gegen die Regeln Verstoßen' zur Pubertät – vor allem der männlichen – dazu", sagt Roth. Sich ausprobieren, Grenzen überschreiten, Regeln nicht einhalten. Auch wissenschaftlich ist das experimentierfreudige und risikobereite Verhalten zu erklären: In der Pubertät verändert sich das Gehirn, wird sozusagen "umgebaut". Und wo umgebaut wird, herrscht erst einmal Chaos. Denn die einzelnen Hirnbereiche brauchen unterschiedlich lange, bis sie fertig sind.
Der sogenannte präfrontale Cortex, also der Bereich hinter der Stirn, reift als einer der letzten aus. Und damit hängt etwa die Kontrolle von Impulsen zusammen, oder die Fähigkeit zu erkennen, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat.
20-Jähriger kommt mit Geldstrafe davon
Weil der junge Mann im Sitzungssaal 7 im Amtsgericht Schweinfurt auch zwei Wochen später wieder Spaß haben wollte, kletterte er noch ein zweites Mal über den Zaun der Diskothek. "Da war in der Zwischenzeit schon eine neue Akte auf dem Weg zu mir", hält Roth ihm vor und schüttelt den Kopf. Der Jugendrichter macht sich nach dem kurzen Plädoyer der Staatsanwältin Notizen, nach wenigen Minuten spricht er ein Urteil: 250 Euro Geldstrafe.
"Sie werden dieses Jahr 21. Ab dann verstehen die Kollegen, die für Sie dann zuständig sein werden, überhaupt keinen Spaß mehr. Die Zeiten, in denen der nette Jugendrichter dafür Verständnis hat, dass man bei der Disco über den Zaun klettert, um Spaß zu haben, sind dann vorbei", sagt Roth. Der 62-Jährige faltet die Hände zusammen: "Ich will Sie dieses Jahr hier nicht mehr sehen." Und der junge Mann erwidert: "Dieses Jahr nicht mehr." Die Anwesenden lachen.
Jugendrichter Roth will Gefängnisstrafen weitestgehend vermeiden
Michael Roth sagt später: "Es geht nicht darum, mit der großen Keule auf jemanden einzuschlagen. Es geht darum, ein gewisses Verständnis zu fördern, vielleicht den ein oder anderen schwierigen Punkt im Leben zu erkennen und herauszuarbeiten und gezielt für dieses Problem Hilfestellungen anzubieten. Das ist der erzieherische Auftrag des Jugendstrafrechts."
Jemanden tatsächlich ins Gefängnis zu stecken, sagt Roth, versuche er weitestgehend zu vermeiden. "Sie ziehen die Person aus ihrem üblichen Leben heraus, sie zerstören Schulausbildung, eine Berufsausbildung", sagt der Jugendrichter. "Es ist doch wesentlich sinnvoller, eine Strafe zur Bewährung zu verhängen, er macht seine Ausbildung fertig und hat ein Fundament, auf dem er später sein Leben aufbauen kann. Ich bin bei der Zerstörung von Fundamenten bei Jugendlichen sehr zurückhaltend."
Ein Hamster verändert das Leben einer straffälligen jungen Frau
Und dann erzählt Michael Roth die Geschichte von Fridolin. "Der Hamster war entscheidend für eine junge Dame, nicht ins Gefängnis zu kommen", erklärt er. Sie war schon öfter straffällig geworden, hatte eine Bewährung offen. Als sie wieder straffällig wurde, sah es vor Gericht schlecht für sie aus. "Ich war nach Aktenlage durchaus geneigt, sie aus dem Verkehr zu ziehen", erinnert sich Roth. Doch dann sei herausgekommen, dass der Hamster in ihr Leben gekommen sei und die Frau das erste Mal Verantwortung für mehr als nur sich selbst übernehmen musste. Roth blieb bei der Bewährung.
Oder man habe einen dasitzen, der für 3,50 Euro irgendetwas geklaut habe, sagt Roth. "Ich gehe rein und denke, das ist doch Pillepalle, Kleinkram, zehn Arbeitsstunden. Und dann erzählt die Person aus ihrem Leben und ich denke mir: 'Wie hast du das geschafft, bisher nicht straffällig zu werden und nur mit einem winzigen Diebstahl bei uns das erste Mal aufzuschlagen?'" Es passiere regelmäßig, dass man im Termin seine Ersteinschätzung komplett revidiere und sich denke: "Das ist das, was erzieherisch sinnvoll ist, und den Arrest stecke ich mal ganz weit weg."
Schweinfurter Streetworker unterstützen junge Menschen
Was er damit meint, ist beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Schweinfurter Streetworkern. Eine Stelle, an die sich junge Menschen zwischen 14 und 27 freiwillig wenden können, um Hilfe zu bekommen. Roth sagt, er könne die straffälligen Jugendlichen und Heranwachsenden nicht zwingen, langfristig zu den Streetworkern zu gehen. "Was ich aber machen kann, ist zu sagen, du musst den Kontakt herstellen einmalig."
Julia Siebenhaar ist eine der drei Streetworker in Schweinfurt. Zu Besuch in der Anlaufstelle in Schweinfurt nennt sie einige Beispiele wie das Team junge Menschen unterstützen kann: "Wir gehen mit zu Gericht, zur Polizei, ins Jobcenter, wir helfen bei Anträgen in sämtlichen Bereichen, zur Krankenkasse, zur Therapeutensuche." Alles laufe auf freiwilliger Basis. "Wenn sie nicht mehr kommen möchten oder Termine verpassen, dann bekommen sie keinerlei Sanktionen", sagt die 41-Jährige.
Dass die jungen Menschen, die zu ihr und ihren beiden Kollegen Alexander Krüger und Clarissa Krempel kommen, auch mal straffällig geworden seien, sei etwas ganz Normales. "Bei uns geht es um etwas anderes", sagt Siebenhaar. Es könne sein, dass der- oder diejenige weiterhin kriminell sei und mit Drogen deale, aber er oder sie brauche trotzdem Hilfe, weil ein Brief gekommen sei und ein Antrag ausgefüllt werden müsse. Viele Klienten könnten ihr Handeln und dessen Konsequenzen nicht realitätsnah abwägen oder seien noch nicht bereit für Veränderung. Auch psychische Erkrankungen spielten oft eine Rolle.
Ihre Kollegin Clarissa Krempel fügt hinzu: "Wir begleiten Menschen auf ihrem Weg und egal, welche Abzweigung sie nehmen, wir sind immer noch da, begleiten weiter." Es gibt eine Schweigepflicht, an die sich die Streetworker halten. "Aber wenn jemand jetzt kommt und sagt, er will einen umbringen. Dann können wir nicht warten, sondern müssen agieren", sagt Alexander Krüger.
Streetworker wollen nicht entscheiden, was ein besserer Weg ist
"Die wenigsten tauchen nur einmal auf und gehen dann wieder", sagt Julia Siebenhaar. Oft begleite man die jungen Menschen sehr lange, wenn sie ihr Leben in Schweinfurt verbringen. "Viele haben niemand anderes, auf den sie sich richtig verlassen können", sagt sie. "Viele haben drogensüchtige oder gewalttätige Eltern, waren im Heim oder haben ein gestörtes Verhältnis zu ihren Eltern."
Natürlich sei langfristig das Ziel, die Leute auf einen besseren Weg bringen, "aber wir entscheiden nicht, was ein besserer Weg ist", sagt Ulrike Aumüller, Erziehungsleitung im Haus Marienthal, bei dem die Streetworker angedockt sind. "Es gibt Leute, die leben seit 20, 30 Jahren auf der Straße und wenn sie da glücklich sind, dann sollen sie das auch tun. Aber wenn jemand was braucht, dann kommen wir gerne ins Spiel."
Die Verlockung, ein nicht ganz legales Leben zu führen, sei groß. "Wenn man ein bisschen rumdealt und das süße Geld schmeckt, ist es natürlich auch hart für uns, dem entgegenzuwirken, und zu sagen, jetzt geh mal ehrlich auf Arbeit", berichtet Julia Siebenhaar.
Richter Roth drückt mal wieder ein Auge zu
Fliegender Wechsel in Sitzungssaal 7 im Amtsgericht Schweinfurt, es ist kurz vor halb 11, der nächste Fall. Der junge Mann hat einen Anwalt dabei. Im November 2022 hatte ihn die Polizei zusammen mit seinen Freunden auf einem Spielplatz mit 1,5 Gramm Haschisch erwischt. Einer hatte es weggeworfen, als das Polizeiauto vorbeifuhr, und die Beamten wiesen es dem 19-Jährigen zu. Der junge Mann sagt: "Das war nicht meins."
Roth schaut sich die Akten an und sagt: "Er ist auf dem Weg zum Führerschein, da brennt natürlich die Hütte." Führerschein und Drogen, eine schlechte Kombination. Der Jugendrichter will dem jungen Mann den Weg nicht verbauen und stellt das Verfahren ohne Auflagen ein, drückt wieder einmal ein Auge zu. Die Eltern, die im Zuschauerbereich sitzen, freuen sich sichtlich, die Mutter schluchzt. Glück gehabt.
Bei den wirlich meisten Berichten in der Mainpost kann man von zahlreichen Vorstrafen lesen und oft auch von offenen Bewährungen die nochmals velängert werden oder eben nochmal eine allerallerallerletzte Chance gewährt wird.
Was lese ich hier noch? von Kleindiebstählen und Verstoß gegen das Hausverbot. Logisch braucht es da keine großen Strafen.
Wenn aber Gewalt gegen andere Menschen im Spiel ist und man als Laie lesen kann, dass es nicht das erste Mal passiert ist, lesen kann das der unschuldige Gegenüber mit Verletzungen im Krankenhaus landete und man am Ende wieder nur von einer Bewährung liest dann schüttle ich als Laie den Kopf.
Nur ist es auch die Frage: Ist es immer einen Bericht wert?
Da haben wir unsere mittlerweile erwachsenen Kinder unter dem Vorzeichen erzogen, dass es nicht normal ist, straffällig zu werden. Und jetzt lesen wir in der MP das Gegenteil.
Wenn wir das mal voher gewusst hätten ...
Hunde die Bellen beißen nicht.