Detlef J. (Name von der Redaktion geändert) weiß, wie man Menschen täuschen kann. Alleinerziehende Mütter, denen er unter die Arme gegriffen hatte, für die seine Hilfe wie gerufen kam und die froh waren, dass sie jemand mit den Kindern unterstützte. Kinder, für die er der nette Onkel von nebenan war, die er mit in Museen und Freizeitparks nahm, ihnen teure Geschenke machte.
Aber auch Behörden, die ihm offenbar glaubten, als er sagte, so etwas wie damals würde er nie wieder tun. Die ihm abnahmen, eine Sammlung von fast 30 Kinder-Schaufensterpuppen, drapiert und verkleidet in seinem Schlafzimmer, würde seine krankhafte Neigung stillen. Ihm, wie er sagt, den "Kick" geben, sodass er keine echten Kinder mehr brauche.
Detlef J. hat sie alle getäuscht.
Große Jugendkammer Schweinfurt, Ende Mai 2020. Detlef J., 53, wirkt harmlos, sein Kopf ist die meiste Zeit gesenkt. Er sitzt neben seinem Verteidiger hinter einer Plexiglasscheibe, trägt einen Mundschutz, der im Gerichtssaal gar nicht nötig ist. Fast so, als würde er sich damit vor den Blicken der Zeugen, der Zuschauer, aber vor allem der Mütter, deren Kinder er missbraucht haben soll, verstecken können. Zu den Vorwürfen sagt er kein Wort, auch sonst hört man seine Stimme nicht – zumindest, während die Öffentlichkeit im Raum ist. Die Anklage: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, sexueller Missbrauch von Kindern, Verbreitung, Erwerb oder Besitz kinderpornographischer Schriften, Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht.
Ein Polizeibeamter sitzt im Zeugenstand, er hatte Detlef J. über Jahre hinweg nach dessen erster Haft betreut. Er erzählt von Besuchen in J.s Wohnung, bei denen er sich über die Puppensammlung wunderte, von J.s Zuverlässigkeit bei Terminen, von einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem damals fünfjährigen Sohn in das Haus, in dem J. wohnte, eingezogen war. Und dann erzählt er von einem Runden Tisch im März 2017, einem Krisengespräch. Das ist der eine Moment, der die Recherche zu dieser Geschichte ins Rollen bringt.
Rückblick, März 2017. Detlef J., seit vier Jahren aus dem Gefängnis raus, steht noch unter Führungsaufsicht. Dennoch pflegt er mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis mit der alleinerziehenden Mutter und deren Sohn in seinem Haus. Weil die Frau einverstanden gewesen war, hatte das Landgericht Bayreuth schon 2015 den Kontakt mit dem Jungen – in Anwesenheit der Mutter – offiziell erlaubt. Detlef J. hält sich nicht daran, unternimmt Dinge mit dem Jungen alleine und lernt schon bald ein weiteres Kind kennen. Dass er sich diesem nicht nähern darf, ignoriert er, trotz mehrmaliger Hinweise seiner Betreuer.
Runder Tisch wird einberufen
Als die Bewährungshelferin davon hört, wird 2017 kurz darauf ein Runder Tisch einberufen. Eine Richterin aus Bayreuth, Schweinfurter Polizeibeamte, die Bewährungshelferin und Therapeuten der Würzburger Fachambulanz für Sexualstraftäter nehmen daran teil. Detlef J. und die Mütter der Kinder werden angehört. Das ergibt sich aus den Aussagen der Zeugen vor Gericht.
Die Anwesenden des Runden Tischs erkennen, dass da etwas nicht stimmt. Dass eigentlich strafbar ist, was J. da gerade tut. Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht nennen Juristen die Straftat, die mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann. Und es zeigen sich Parallelen zur Vorgeschichte: Wie J. sich über Jahre hinweg das Vertrauen von Kindern und ihren Eltern erschleicht, ehe er sich an den Minderjährigen vergeht und davon auch noch Fotos macht. Die Fachambulanz ist der Meinung, Detlef J. benötige weiterhin Betreuung. All das wird am Ende in einem mehrseitigen Protokoll der Sitzung stehen.
Was folgt, sind ein Appell an Detlef J., das Kontaktverbot zu sämtlichen Kindern und die Bitte um völlige Offenheit. Die eigentlich 2018 auslaufende Führungsaufsicht wird verlängert – unbefristet. J. hatte zuvor noch darum gebeten, man solle ihm doch eine Chance geben.
Jürgen Scholl sitzt im August 2020 im Besprechungssaal seiner Kanzlei. Der erfahrene Anwalt hat als Nebenkläger die betroffenen Familien im Prozess gegen Detlef J. vertreten. Und er kann bei dem Gedanken an J. und die Chancen, die man ihm gegeben hat, nur den Kopf schütteln.
Kinder-Schaufensterpuppen im Schlafzimmer
Warum haben die Beamten die Kinder-Schaufensterpuppen nicht als Warnsignal wahrgenommen? Warum erlaubt man einem vorbestraften Sexualstraftäter überhaupt, Kontakt zu einem Nachbarsjungen zu haben, selbst wenn die Mutter dabei ist? Und warum stellt man keinen Strafantrag, wenn bekannt wird, dass er mit weiteren Kindern Kontakt hatte, ebenfalls ohne deren Eltern – obwohl ihm dieser strengstens untersagt war?
"Das sind alles Fragen, die ich nicht beantworten kann", sagt Scholl und beklagt, dass Detlef J., obwohl er offensichtlich wieder eine Straftat begangen hatte, erneut Verständnis entgegengebracht wurde. Die Teilnehmer des Runden Tischs haben auf die Aufsichtspflicht der Mütter hingewiesen, sagt Scholl. "Man hat sich offenbar auf die Mütter fokussiert, damit diese sich vor dem bösen Wolf schützen." Dabei sei es auch die Frage, inwiefern die Mütter die Pläne von J. überhaupt hätten steuern können.
Prozess am Landgericht Schweinfurt
Das Landgericht Schweinfurt verurteilt Detlef J. im Juni 2020 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu acht Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Detlef J. leide unter Pädophilie, er habe trotz der früheren Haft, trotz Therapie, trotz Überwachung und Unterstützung nach der Entlassung erneut die gleichen Straftaten begangen, für die er schon einmal verurteilt worden war, begründet die Vorsitzende Richterin das Urteil. Seine Neigung werde "weder durch die Strafhaft, noch durch eine Therapie, noch durch sein fortschreitendes Alter beseitigt werden".
Sein Verteidiger hatte zuvor in seinem nichtöffentlichen Plädoyer ein milderes Urteil und eine maximale Haft von sechs Jahren und lediglich den Vorbehalt der Sicherungsverwahrung gefordert. Detlef J. hatte im Laufe des Prozesses alle belegbaren Taten gestanden. Nach dem Urteilsspruch legte er Revision ein. Der Grund sei die angeordnete Sicherungsverwahrung, erklärt J.'s Strafverteidiger Klaus W. Spiegel auf Nachfrage der Redaktion. Es gehe um die Frage, ob die Anordnung vom Gericht ordnungsgemäß begründet werden könne. "Ich bin der Auffassung, dass der Bundesgerichtshof das nochmal überprüfen sollte", sagt Spiegel.
Bayernweit gibt es 1300 HEADS-Probanden, in Unterfranken 86
J. hatte schon einmal im Gefängnis gesessen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Nach seiner Haftentlassung 2013 wurde er in das "HEADS"-Konzept aufgenommen. Die Abkürzung steht für "Haft-Entlassenen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter", 2006 war das Konzept bei der Polizei München zum Schutz der Bevölkerung vor rückfallgefährdeten Sexualstraftätern eingerichtet worden. Bayernweit gibt es inzwischen 1300 sogenannte Probanden, in Unterfranken sind es 86. Für J.s Betreuung war besagter Polizeibeamter im Zeugenstand zuständig.
Auf Nachfrage schildert die Polizei München, wie bei der Aufnahme eines Probanden in die Datei vorgegangen wird. Zuständig dafür sei die Führungsaufsichtsstelle der Justiz des aktuellen Wohnsitzes. Ist der Proband aufgenommen, betreut ihn die dortige Polizeiinspektion. Die Betreuung oder besser Überwachung beinhalte Standardmaßnahmen wie die Überprüfung des Wohnsitzes, Gespräche mit dem Probanden, Informationsaustausch mit Bewährungshilfe, Fachambulanz, Staatsanwaltschaft. Auch werde überprüft, ob der Proband gegen die Weisungen im Rahmen seiner Führungsaufsicht verstoße.
Prozessbeobachterin hält das Behördenvorgehen für "unglaublich"
Im Gerichtssaal in Schweinfurt im Mai 2020 sitzt auch Wiltrud Werner. Sie hört sich jede öffentliche Sitzung als Besucherin an. Als Unterstützung für die Mütter, sagt sie, weil es wichtig sei, "dass da jemand dabei ist". Werner, 75, ist Außenstellenleiterin des Weißen Rings in Schweinfurt, der Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und deren Angehörige.
Im Gespräch mit der Redaktion erinnert sich Werner noch gut an jenen Moment, als die Polizeibeamtin, die die Ermittlungen im Fall Detlef J. leitete, sie im Sommer 2019 anrief und von einem Missbrauchsfall berichtete. Sie habe Kontakt zu der Mutter des Kindes aufgenommen, erzählt sie. Kurze Zeit später bekam sie einen weiteren Anruf: ein weiterer Missbrauchsfall. Werner sieht Parallelen. Sie habe nach dem Wohnort gefragt und der Mutter sagen müssen: "Ihr Sohn ist nicht der Einzige."
"Unglaublich", sagt Werner mehrmals, als sie den Prozess gegen Detlef J. resümiert. Dass Behörden oder gar Angehörige Missbrauchsfälle zu spät als solche erkennen, sei nichts Ungewöhnliches, kann sie nach neun Jahren beim Weißen Ring berichten. Sie ist sich sicher, dass der Missbrauch der Kinder hätte verhindert werden können, hätten die Behörden früher eingegriffen.
Warum zogen Verstöße keine Konsequenzen nach sich?
Doch ganz so einfach ist es nicht. Will man dem Fall auf den Grund gehen, muss man sich durch ein komplexes juristisches System kämpfen und wird von Stelle zu Stelle verwiesen. Eine erste Anfrage dieser Redaktion zu dem Fall richtet sich an die Polizei, schließlich war es die Aussage des Kriminalbeamten vor Gericht, die die Zuhörer aufhorchen ließ. "Warum die Verstöße des Beschuldigten gegen seine Weisungen der Führungsaufsicht keine weiteren Konsequenzen nach sich zogen, lässt sich von hier aus nicht final belastbar beantworten", heißt es aus dem Polizeipräsidium Unterfranken dazu.
Generell teile die Polizei festgestellte Verstöße gegen Weisungen der zuständigen Führungsaufsichtsstelle mit. Über die Konsequenzen für die Probanden entscheide dann die Führungsaufsicht. Bei Runden Tischen, wie mehrmals im Falle von Detlef J., sei die Polizei zwar in der Regel mit anwesend und bekleide eine beratende Funktion. Die Entscheidungen würden allerdings ausschließlich von der Justiz getroffen, so das Polizeipräsidium weiter.
Hinweis der Fachambulanz: Therapieziel noch nicht erreicht
Ähnliches ist vom Landgericht Schweinfurt, dem J.s Bewährungshelferin angehört, zu vernehmen. Die Bewährungshilfe habe keine eigene Möglichkeit, einen Strafantrag wegen Verstößen gegen die Weisungen der Führungsaufsicht zu stellen, heißt es aus der Pressestelle. Die Bewährungshilfe unterstütze die Führungsaufsicht beim Überwachen der Weisungen. Stelle sie Verstöße fest, teile sie diese der Führungsaufsicht mit. So steht es auch im Gesetz, Paragraph 145a Strafgesetzbuch: "Die Tat wird nur auf Antrag der Aufsichtsstelle verfolgt."
Alle Wege führen also zur Führungsaufsichtsstelle in Bamberg, zuständig für die Landgerichte Aschaffenburg, Bamberg, Bayreuth, Coburg, Hof, Schweinfurt und Würzburg. Im Anschluss an den Runden Tisch im März 2017 hatte die Bewährungshilfe einen Bericht, der der Redaktion vorliegt, nach Bamberg geschickt. In ihm ist die Rede von Weisungsverstößen. Darin enthalten ist auch ein Hinweis der Fachambulanz in Würzburg, dass das Therapieziel von Detlef J. noch nicht erreicht sei. Trotzdem wird es in einem Auszug des Urteils von Juni 2020 heißen: Die Führungsaufsichtsstelle habe Ende März 2017 "zunächst noch von einer Strafantragstellung hinsichtlich der bis dahin begangenen Weisungsverstöße bewusst abgesehen".
Trotz Hinweise auf Verstöße sei zunächst von einem Strafantrag abgesehen worden
Für die Antworten auf eine Anfrage der Redaktion lässt sich die Führungsaufsicht vier Wochen Zeit. Schließlich gibt sich die Stelle bedeckt und lässt lediglich über die Pressestelle des Landgerichts Bamberg ausrichten: "Die Strafantragstellung steht im Ermessen der Führungsaufsichtsstelle und ist nicht zwingend. Eine Strafantragstellung erfolgt regelmäßig dann, wenn im Einzelfall durch den Verstoß die Ziele der Führungsaufsicht gefährdet werden."
Neben dem Bericht der Bewährungshelferin habe auch ein Vermerk der zuständigen Richterin aus Bayreuth, die am Runden Tisch im März 2017 teilgenommen hatte, vorgelegen. Aus diesem habe sich ergeben, dass der Proband gegen Weisungen während der Führungsaufsicht verstoßen hat. Nach Abwägung der Gesamtumstände sei angesichts der vorliegenden Berichte zu diesem Zeitpunkt vorläufig von einer Strafantragstellung abgesehen worden, heißt es weiter.
Eine Strafantragstellung der Führungsaufsichtsstelle erfolgte letztlich mehr als zwei Jahre später, am 12. August 2019.
Detlef J. fotografiert gerne. Eine Zeugin erzählt im Mai vor Gericht, eine der Mütter habe ihr mal gesagt, den Angeklagten gebe es nur mit seiner Kamera. Es sei immer normal gewesen, dass er sie bei Ausflügen dabei hatte. Dass er Fotos machte – auch von den Kindern.
Im April 2017, nur wenige Tage nach dem Runden Tisch, wenige Tage nach dem Appell, geht Detlef J. einen Schritt weiter. Er fertigt das erste Mal Fotos von einem der Jungen auf der Toilette an.
Auch die Mainpost hat daran Anteil, weil Sie Kritik an dieser Justiz unterbindet, immer erst berichtet, wenn es zu spät ist - gehe davon aus, dass auch dieser Kommentar wie zahlreiche andere „gesperrt“ wird, da er „nicht zur Diskussion beiträgt“....
Die Justiz in Unterfranken ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Schön, wenn einzelne Journalistinnen das anfangen zu begreifen.
M. Deeg
Polizeibeamter a.D.