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Geldersheim
Ankerzentrum Schweinfurt: Betroffenheit nach zwei Suiziden
Viele Geflüchtete kommen traumatisiert in Deutschland an. Die ungewisse Zukunft und Abgeschiedenheit verstärken ihre psychischen Probleme. Wie ist die Lage in Schweinfurt?
Zwei Suizide von Bewohnern in den vergangenen Wochen machen betroffen: Archivaufnahme des Ankerzentrums in Schweinfurt.  
Foto: Anand Anders | Zwei Suizide von Bewohnern in den vergangenen Wochen machen betroffen: Archivaufnahme des Ankerzentrums in Schweinfurt.  
Irene Spiegel
 |  aktualisiert: 14.02.2024 10:34 Uhr

Im Juni 2018 stürzt ein 22-jähriger Asylsuchender auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle aus dem zweiten Stock der Aufnahmeeinrichtung in Schweinfurt. Er überlebt. Im Februar 2019 stranguliert sich ein 22-jähriger Somalier in einer Haftzelle im Dienstgebäude der Schweinfurter Polizei. Wiederbelebungsversuche sind erfolglos. Anfang Februar 2021 legt sich ein 20-jähriger somalischer Bewohner des Ankerzentrums während eines Klinikaufenthaltes in Lohr auf die Bahngleise. Er stirbt. Nur kurze Zeit später wird ein 25-jähriger Marokkaner in der Ankereinrichtung von Bewohnern tot vor einem Wohnblock gefunden.

"So extrem wie jetzt im Ankerzentrum war es noch nie", sagt Dorothea Böttcher. Die Berufsschullehrerin kennt die Zeit der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem Kasernengelände in der Stadt Schweinfurt. 2018 wurde daraus ein Ankerzentrum, Mitte 2019 verlegte man es in die ehemalige Conn-Kaserne zwischen Geldersheim und Niederwerrn (Lkr. Schweinfurt). Hier müssen Flüchtlinge nun bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag bleiben. Daher der Name: Anker steht für "Ankunft, Entscheidung, Rückführung". Der Bayerische Flüchtlingsrat und Flüchtlingsorganisationen kritisieren diese Einrichtungen, weil hier die Menschen ohne Beschäftigung, ohne Perspektive und von der Außenwelt weitgehend isoliert seien.

Viele Geflüchteten kommen traumatisiert an

Dorothea Böttcher unterrichtet in Schweinfurt seit Beginn der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 junge, berufsschulpflichtige Asylbewerber im Fach Werken. In den Anfangsjahren fand der Unterricht noch in der Alfons-Goppel-Berufsschule in Schweinfurt statt. Seit dem Umzug der Aufnahmeeinrichtung an die Peripherie  ist die Berufsschule für Flüchtlinge nun dort integriert. So wie auch Schule, Kindergarten, Ärztezentrum, Flüchtlingsberatung und alle zur Bearbeitung eines Asylantrags notwendigen Behörden hier zentralisiert sind.

Die Pädagogin hält dies für "keine gute Lösung". Die Bewohner seien durch die Entfernung zur Stadt wie "kaserniert". Viele der Geflüchteten kämen traumatisiert in Deutschland an, "und diese Lebenssituation im Anker verstärkt das", ist Dorothea Böttcher überzeugt. Die beiden Suizide im Februar sieht sie als Alarmsignal, das zeige, wie "dramatisch" das Leben im Ankerzentrum für manche sei. "Wir sind alle sehr betroffen." 

Auch Dr. Özlam Anvari haben die Suizide sehr betroffen gemacht. Die Leiterin des Ärztezentrums in der Ankereinrichtung betreute die Bewohner danach psychologisch, auch den Jugendlichen in der Berufsschule hat sie Gespräche angeboten. Flyer wurden verteilt mit Informationen, wo man bei psychischen Problemen im Anker Hilfe finden kann. Erste Anlaufstelle ist "Soul Talk", ein niederschwelliges Angebot mit ausgebildeten Laienberatern, die selbst Fluchterfahrung haben und Gespräche in Muttersprache führen können. Das von den Würzburger Erlöserschwestern finanzierte Projekt zur psychosozialen Betreuung von Geflüchteten ist einmalig in deutschen Ankereinrichtungen.

"Corona wirkt hier wie ein Brennglas."
Dr. Özlam Anvari, Leiterin des Ärztezentrums in der Ankereinrichtung 

"Soul Talk" reicht aber nicht aus, um das aufzufangen, was die Geflüchteten an Belastungen mit sich tragen. Das weiß die Ärztin. Aber Anvari hält es für zu kurz gegriffen, allein die Wohnsituation als Ursache dafür zu sehen. Der Anker sei durch die lange Aufenthaltsdauer für die Geflüchteten per se problematisch, "ob drinnen oder draußen". Und durch die Pandemie habe sich die Lage – wie überall – noch verschärft: "Corona wirkt hier wie ein Brennglas." 

Die Leiterin des Ärztezentrums sagt: "An der Wurzel des Problems können wir nichts ändern, aber wir versuchen die Nöte in unserer Arbeit aufzugreifen." Dabei helfe gerade die Zentralisierung aller für Asylbewerber wichtigen und erforderlichen Angebote. Caritas und Diakonie seien mit der Flüchtlingsberatung vor Ort, hier stehe jederzeit ärztliche und psychologische Hilfe bereit. Und die Wege zu den Behörden seien kurz: "Draußen müssten sie sich um alles selbst kümmern."

"Wir haben keine Indizien gefunden, dass die Situation im Anker Auslöser war."
Benjamin Kraus, Leiter des Ankerzentrums

"Wir haben keine Indizien gefunden, dass die Situation im Anker Auslöser für die Suizide war", sagt denn auch Benjamin Kraus, Verwaltungsleiter der Einrichtung. Der 25-jährige Marokkaner sei erst an Weihnachten in die Bundesrepublik eingereist und Anfang Januar ins Ankerzentrum gekommen.

Auch durch die Verlagerung der Einrichtung an den Stadtrand sieht Kraus keine Verschlechterung für die Asylbewerber. Es gebe eine gute Busanbindung, einen sehr gut ausgebauten Radweg nach Schweinfurt und Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Alle bisherigen Hilfs- und Freizeitangebote bestünden weiter, dank der großflächigen Außenareale seien die Möglichkeiten sogar besser geworden. Einschränkungen gebe es, wie allerorten, lediglich aufgrund der Corona-Pandemie, resümiert Kraus. "Da geht es den Bewohnern nicht besser und schlechter als den Menschen draußen." 

Manche Asylverfahren können sich lange hinziehen

Offiziell soll eigentlich niemand länger als anderthalb Jahre in einem Ankerzentrum bleiben. Bei eindeutigen Fällen wie Syrern aus Kriegsgebieten, die aktuell wieder Schweinfurt zugeteilt werden, geht das Verfahren tatsächlich schnell. Aber bei schwierigen Fällen, das räumt Kraus ein, könne sich die Abwicklung schon mal bis zu zwei Jahre hinziehen. Und solche Asylverfahren hat das Ankerzentrum viele.

Eine große Gruppe sind "Dublin-Fälle", bei denen die Asylsuchenden in den für sie zuständigen EU-Staat zurückgeführt werden müssen und sich dagegen zur Wehr setzen. Oder es sind Geflüchtete, die wegen geringer Aussicht auf einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland an der Feststellung ihrer Identität nicht mitwirken. Diese Verfahren können lange dauern, vor allem der Weg durch die gerichtlichen Instanzen. "Länger als zwei Jahre war aber noch kein Asylbewerber hier", versichert der Ankerzentrumsleiter.

Kritikern von Ankerzentren geht dies viel zu weit. Denn die erschwerten Bedingungen in einer solchen Einrichtung könnten für die Geflüchteten zusätzlich traumatisierend sein – gerade jetzt in der Corona-Pandemie. "Unsere Schüler werden jedes Mal unruhig, wenn wieder eine Reihentestung ansteht, weil sie eine Quarantäne für das gesamte Ankerzentrum befürchten", sagt Dorothea Böttcher.

Viermal hat das Staatliche Gesundheitsamt im vergangenen Jahr das Ankerzentrum unter Quarantäne gestellt. Dank konsequenter Kontaktverfolgung und Reihentestungen musste die drastische Maßnahme zuletzt nicht mehr angeordnet werden. "Wir hatten keine größeren Ausbrüche mehr, und aktuell gibt es auch keinen Corona-Fall", lobt Regierungssprecher Johannes Hardenacke das vom ärztlichen Team und der Anker-Verwaltung erarbeitete Corona-Konzept. 

Coronabedingt verteilt die Ankerverwaltung seit März vergangenen Jahres auch die Zimmer großzügiger: "Die meisten Bewohner sind zu zweit in Vier-Bett-Zimmern untergebracht", sagt Kraus. Hier kommt der Leitung entgegen, dass die Einrichtung derzeit mit 765 Bewohner nur gut zur Hälfte belegt ist. Die beiden Suizide könne man deshalb in keinerlei Zusammenhang mit der Unterbringung vor Ort bringen, sagt Regierungssprecher Hardenacke. Es seien Einzelschicksale. Anker-Chef Kraus machen sie betroffen: "Der Tod der beiden Bewohner ist unendlich tragisch." 

In der Regel berichtet die Main-Post nicht über Selbsttötungen, außer die Umstände erlangen besondere Bedeutung in der Öffentlichkeit. Wenn Sie Gedanken quälen, sich selbst das Leben zu nehmen, dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer (0800) 11 10-111 oder -222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.

 
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