Rooble Warsame hatte den Traum vom Leben in Deutschland. Seine Flucht aus Somalia aber endete am 26. Februar 2019 mit dem Freitod – in einer Polizeizelle in Schweinfurt. Das haben Ermittlungen des Landeskriminalamts und der Staatsanwaltschaft Schweinfurt sowie die Obduktion ergeben. Die Familie des Somaliers glaubt nicht, dass Rooble Warsame Suizid begangen hat. Und weil auch eine Organisation aus Berlin seine Selbsttötung anzweifelt und eine große deutsche Tageszeitung seinen Tod selbst nach Einstellung des Verfahrens in einem Atemzug mit ungeklärten oder mysteriösen Todesfällen schwarzer Menschen in Haftzellen nannte, hat die Staatsanwaltschaft Schweinfurt in dieser Woche die Ermittlungen wieder aufgenommen.
Axel Weihprecht, Leitender Oberstaatsanwalt in Schweinfurt, sagt: "Im Herbst wurden die Ermittlungen abgeschlossen. Herr Warsame hat sich in seiner Zelle erhängt. Dennoch wird im Hintergrund agitiert, immer wieder steht im Raum, dass an der Tragödie etwas unklar wäre." Weil immer wieder Aussagen zu hören sind, die im vorhergehenden Ermittlungsverfahren nicht zu finden waren, habe er sich entschlossen, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. "Nicht, weil mir etwas komisch vorkommt", sagt Weihprecht, "sondern um allem nachzugehen, was in den Raum gestellt wird".
In jener Nacht gab es Streit im Anker-Zentrum
Rückblick: Rooble Warsame wurde an jenem 26. Februar 2019 aus der Asylunterkunft Anker-Zentrum in Schweinfurt zur Dienststelle der Polizei gebracht und in eine Gewahrsamszelle gesperrt. In dieser Nacht hatte er den Ermittlungen zufolge wiederholt Streit gesucht. Laut Staatsanwaltschaft nahmen die gerufenen Beamten den jungen Mann mit, ohne dass er Widerstand geleistet hätte. "Die Polizisten wurden von ihm nicht angegriffen, nicht beleidigt", so Weihprecht. Auf der Fahrt in die Dienststelle sagte Warsame laut Weihprecht zwei Mal: "Zu viel Alkohol." Einen Alkomat-Test durchzuführen sei nicht möglich gewesen, weil der 22-Jährige die Handhabung nicht verstanden habe.
Bevor Warsame in die Zelle geschickt wurde, gaben die Beamten seinen Namen im Ausländerzentralregister ein. Der Computer meldete, dass Warsame einmal Ladendiebstahl begangen habe. Ein Fehler, wie sich erst später herausstellte. Denn die Polizisten hatten den Namen eingegeben, der ihnen vom Anker-Zentrum genannt worden war – und der war wegen eines Drehers der verschieden Vornamen fehlerhaft. Ein ähnlicher Name zwar, aber nicht der, unter dem Robble Warsame bei der Polizei bereits drei Wochen zuvor erfasst worden war.
Es gab eine Namensverwechslung
Axel Weihprecht: "Er führte einen Ausweis des Ankerzentrum mit, in dem sein Name mit 'Warsame' und sein Vorname mit 'Rooble Muse' vermerkt war. Nach diesen Angaben wurde in der Nacht des 26. Februar eine Vorgangsabfrage durchgeführt. In der Duldung und im Ausländerzentralregister ist der Name des Verstorbenen mit 'Muse Warsame' und der Vorname 'Rooble' angegeben. Unter diesen Personalien war in der Vorgangsverwaltung der Polizei der erwähnte Vorfall vom 5./6. Februar registriert. Mit dem Familiennamen 'Warsame' war dieser Vorgang nicht zu recherchieren. Herr Warsame war den Polizeibeamten, die in der Nacht des 26. Februar mit ihm zu tun hatten, nicht bekannt."
Durch den Namensfehler erfuhren die diensthabenden Schweinfurter Beamten in dieser Nacht nicht, dass der 22-Jährige erst drei Wochen vorher eine Nacht in der Psychiatrie in Werneck verbracht hatte. Eingeliefert worden war er wegen Selbstgefährdung: Am 5. Februar war Warsame wegen Missbrauchs von Notrufen festgenommen und zur Polizeidienststelle in Schweinfurt gebracht worden. In der Zelle hatte er mehrfach seinen Kopf gegen die Gitterstäbe der Tür geschlagen und laut Weihprecht geäußert, man möge ihn umbringen, sonst mache er es selbst. Bereits am nächsten Tag war Warsame aus der Wernecker Einrichtung wieder entlassen worden, die Ärzte sahen bei ihm offenbar keine Selbst- oder Fremdgefährdung mehr.
Der Notarzt konnte nichts mehr tun
Zurück zum 26. Februar 2019: Suizidgefährdete sollten oft kontrolliert werden. Warsame aber ist um 5 Uhr in die Zelle gebracht worden. Um 7.30 Uhr findet ein Beamter den Mann bei einem Kontrollgang leblos vor. Warsame hat laut Ermittlungsakten den Rand der Decke im Verwahrraum abgetrennt, sich daraus ein langes Seil gemacht. Das eine Ende hat er ans Zellengitter, das andere um seinen Hals geknotet. Der Beamte findet Warsame kauernd am Boden, halb kniend, halb sitzend, nicht ansprechbar. Er lässt Notarzt und Rettungsdienst verständigen, löst die Knoten, lagert mit einem Kollegen Warsame auf der Pritsche.
Es seien weder Puls noch Atem feststellbar gewesen, sagt der Staatsanwalt. Der Polizist habe mit Mund-zu-Mund-Beatmung begonnen, bis der Notarzt fünf Minuten später eingetroffen sei. Auch seine Maßnahmen haben keinen Erfolg: Um 8.10 Uhr wird der Tod von Robble Warsame festgestellt.
Die Familie äußert Skepsis
Hier beginnt die Skepsis der Familie. Warsames Cousin Mohammed Yassin, 39 Jahre alt und auch Somalier, war 2004 nach Schweden gekommen. Heute sitzt er im Stadtrat von Malmö. Nach der Nachricht vom Tod Roobles war der Politiker nach Schweinfurt gereist. "Die Polizei hat uns die Zelle gezeigt. Hier gibt es nichts, um sich aufzuhängen, keinen Haken, keine Querstrebe", sagt Yassin im Telefonat mit der Redaktion. "Das ist eine standardisierte westliche Haftzelle, die auch für Betrunkene gedacht ist, damit sie sich nicht verletzen können. Die Matratze ist nackt, da ist nichts, was du zerreißen kannst – und nichts, woran du es knüpfen könntest."
Rooble Warsame war die Oberbekleidung weggenommen worden – aus Sicherheitsgründen und zum Schutz vor Selbstverletzung. Gegen die Kälte erhielt er eine Wolldecke. Diese Decken, die einheitlich in bayerischen Haftzellen liegen, stammen von der Firma Ibena, sind 1,40 mal zwei Meter groß und auffällig mit einem dicken Faden am Saum umkettelt. "Gegenstände bzw. Werkzeuge zur Abtrennung der Wolldecken waren weder in der Zelle vorhanden, noch konnte er diese am Körper bzw. in der Kleidung getragen haben", sagt das bayerische Innenministerium auf Anfrage. Jedoch: Mit Zähnen und großem Willen sei es möglich, die Umfassung aufzutrennen und sich daraus ein Seil zu basteln, ist von einem Polizisten einer anderen Dienststelle hören. Nach dem Vorfall seien die Dienststellen angehalten worden, alle Decken in den Hafträumen auf schadhafte Umkettelungen zu prüfen.
Der Verstorbene hatte 1,2 Promille im Blut
Was Warsames Familie auch nicht glaubt: Dass man sich an einem vertikalen Gitterstab erhängen kann. Rechtsmediziner sprechen von "atypischem Erhängen", wenn beispielsweise der Körper noch Bodenkontakt hat. Zu diesem Ergebnis kamen auch die Rechtsmediziner der Universität Würzburg, die Warsames Körper untersucht hatten. Anhaltspunkte für eine darüber hinaus gehende Gewalteinwirkung auf den Verstorbenen hatte die Obduktion nicht ergeben. "Im Ergebnis kommt das rechtsmedizinische Institut daher als Todesursache zu einem zentralen Regulationsversagen nach Sauerstoffmangel-bedingter Unterversorgung des Gehirns durch atypisches Erhängen", heißt es in der Erklärung zur Einstellung des Verfahrens. Die Mediziner hatten mittels einer Blutprobe des Verstorbenen zudem festgestelt, dass er 1,2 Promille im Blut hatte.
Die Erkenntnisse der Ärzte ziehen die Verwandten in Zweifel. Die Familie hatte auf eine rituelle Waschung des Körpers nach der Obduktion bestanden. Mohammed Yassin sagt über seinen verstorbenen Cousin: "Er hatte viele Blutergüsse am Körper, Kratzer von Fingernägeln, auch eine große Wunde am Knie." Yassin fragt sich: Wurde Rooble Warsame geschlagen? Kommt die Knieverletzung daher, dass er über den Boden geschleift wurde? Der Redaktion liegen Fotos vor, die während der Waschung gemacht worden waren. Auf diesen sind lediglich ein sehr kleiner Kratzer im Brustbereich zu sehen, eine Abschürfung am Knie, dazu dunklere Flecken am Hals.
Menschenrechtsorganisation schaltet sich ein
Über die Moschee in Schweinfurt war Yassin in Kontakt zu Basu Biplab gekommen, der der Organisation "Reach out Berlin" angehört, einer Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Nach dem Gespräch mit Warsames Cousin sagte Biplab: "Ich zweifle an der Version der Polizei, sich als 1,80 Meter großer Mann mit etwa 70 Kilogramm an einem Gitterstab erhängen zu können."
Durch Initiative von Basu Biplab vertrat der Berliner "Menschenrechtsanwalt" Hans-Eberhard Schultz die Familie im Herbst 2019. Eine solche Todesart, schrieb Schulz in einer E-Mail an die Redaktion, "soll es zwar nach Auskunft eines Experten geben, die genauen Umstände müssen aber noch aufgeklärt werden, zumal kein Motiv ersichtlich ist und zwischen der Einlieferung in den Polizeigewahrsam und dem Auffinden des Toten mehr als eineinhalb Stunden vergangen sind".
Unklarheit bei den Zeitangaben
Tatsächlich gibt es hier eine Unklarheit. In der Erklärung zur Einstellung des Verfahrens ist zu lesen, dass zwischen Einlieferung (5 Uhr) und Auffinden (7.30 Uhr) "eineinhalb Stunden" vergangen sein sollen – es wären aber zweieinhalb Stunden. Leitender Oberstaatsanwalt Axel Weihprecht: "In der Tat, das gilt es aufzulösen. Vermutlich wurde ab Schichtwechsel gerechnet", und der sei um 6 Uhr morgens. Die Frage, die sich damit stellt: Wurde Warsames Zelle zwischen 5 und 6 Uhr kontrolliert? Weihprecht: "Das muss jetzt im Detail geklärt werden."
Die Angehörigen haben nach Auskunft des Staatsanwalts keine Beschwerde gegen die Einstellung erhoben. Jedoch lassen die Fragen von Journalisten und Opferverbänden nicht nach. Angesichts der rassistischen Übergriffe von Polizisten in den USA auf farbige Menschen nachvollziehbar, sagt Axel Weihprecht: "Aber es gibt momentan nicht den geringsten Anhalt dafür, dass Rooble Warsames Tod auf Fremdverschulden zurückzuführen ist – trotzdem gehen wir dem allem noch einmal nach."
In der Regel berichtet die Main-Post nicht über Selbsttötungen, außer die Umstände erlangen besondere Bedeutung in der Öffentlichkeit. Wenn Sie Gedanken quälen, sich selbst das Leben zu nehmen, dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer (0800) 11 10-111 oder -222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.