
Sport ist gesund. Körperliche Betätigung stärkt Herz, Kreislauf, Knochenbau und vieles mehr. Zahlreiche Menschen treiben leidenschaftlich gerne Sport, woran zunächst einmal nichts auszusetzen ist. Tatsächlich aber gibt es eine Grenze. Die Leidenschaft zum Sport kann zur Besessenheit werden. Manche Frauen und Männer können nicht mehr ohne. Wenn der sportliche Eifer zum Zwang wird, spricht man allgemein von Sportsucht. Was die Hintergründe davon sind und ab wann man von Sportsucht reden kann, erläutert Guido Loy, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Leiter des Chefarztbereiches 2 der Psychosomatischen Klinik in Bad Neustadt.
Zunächst einmal: Sportsucht ist nicht in der "Internationalen Klassifikation psychischer Störungen" zu finden, gilt in diesem Standardwerk demnach offiziell nicht als eine Verhaltensstörung oder Suchtform, führt Guido Loy aus. Er fährt aber fort: Kein Therapeut würde bezweifeln, dass es Sportsucht gibt.

Für Sport gebe es viel Anerkennung. "Man bewundert Menschen, die Extremes leisten." Der Begriff Sport sei positiv besetzt. Für einen Marathon müsse man viel und regelmäßig trainieren. "Ein Marathon verlangt einiges ab. Da muss man eine gewisse Rigidität und Zwanghaftigkeit mitbringen", sagt Loy.
Feiern oder Treffen mit Freunden können nicht stattfinden, weil man trainieren muss
Das alles sei in der Regel normal. Normal sei jedoch nicht mehr, betont der Mediziner, wenn der Sport das Leben bestimmt. Wenn man seine Leistung immer mehr optimieren wolle und der Sport zu einem fixen Gedanken werde, um den sich alles dreht. "Der Sport nimmt immer mehr Raum ein." Feiern oder Treffen mit Freunden könnten nicht stattfinden, weil man trainieren müsse. "Das führt zu einem sozialen Rückzug sowie zu partnerschaftlichen und beruflichen Problemen."
Überdeutlich werde es, wenn ein Mensch weiter Sport treibt, obwohl es ihm schlecht geht oder er verletzt ist, erläutert Loy. Dann sei die Grenze überschritten und man spreche von einer Sucht. Ein Sportsüchtiger schädige sich selbst – körperlich und psychisch.
Eine Sportsucht taucht selten isoliert auf, zumeist stellt sie eine sekundäre Störung dar
Sportsucht tauche jedoch selten isoliert auf. Zumeist sei sie kein primäres, sondern ein sekundäres Problem. Sportsucht könne zum Beispiel mit einer Essstörung einhergehen. Mit einer Magersucht, insofern dass man den Körper als zu dick empfindet und mittels Sport noch mehr abnehmen will. Oder, dass man mehr Muskeln entwickeln möchte. "Bei so einer Störung nimmt man sich nicht real wahr", sagt Guido Loy, "und beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit den Themen Essen und Bewegung".
Einhergehen könne eine Sportsucht sekundär auch mit einer Persönlichkeitsstörung. Sport vermittelt Kontrolle über den Körper. "Wenn man schon sonst keine Kontrolle über sich hat, dann fühlt man sich zumindest durch den Sport stärker", führt der Chefarzt der Psychosomatischen Klinik aus. "Sport verhilft zu dem Gefühl, den eigenen Körper im Griff zu haben." Bei Lebenskrisen sei es zudem wichtig, sich selbst zu spüren. Ein Mittel dazu sei Sport.
Oder in Fällen wie Trauer und Verlust: Man möchte sich nicht damit beschäftigen und suche im Sport eine Ablenkung, erläutert Loy. Eine weitere Ursache könne sein, wenn man sich nicht wertvoll oder geliebt fühlt. In diesem Fall entstehe ein extremer Leidensdruck sowie daraus eine hohe Leistungsbereitschaft und eine große Strenge mit sich selbst, um Anerkennung herbeizuführen.
Wenn man es nicht mehr sein lassen kann: Zwanghaftigkeit wird besorgniserregend
Sport löse zudem innere Spannungen. Laufen zum Beispiel erhalte bei seelischen Problemen den Sinn von "Ballast ablaufen", von "Problemen davon laufen", von "den Kopf frei laufen", von "sich leichter laufen – körperlich wie seelisch" oder "eine innere Entspannung herbeilaufen". "Das kennen sicher viele Menschen und das ist zunächst einmal nicht besorgniserregend", sagt dazu Guido Loy. Besorgniserregend werde die Zwanghaftigkeit. "Wenn man es nicht mehr sein lassen kann."
Vielen Menschen sei nicht bewusst, dass sie eine Grenze zwischen einer starken Sportbindung und einer Suchterscheinung überschritten haben, berichtet Guido Loy. Der Weg, Menschen dazu zu bringen, zu erkennen, dass sie ein Problem haben, sei nicht einfach. Gerade sportlich aktive Menschen signalisieren: "Ich funktioniere doch und das sogar sehr gut."
Umso schwerer hätten es Freunde und Angehörige, jemandem, von dem man meint, er würde es übertreiben, das begreiflich zu machen. Selbst wenn durch den intensiven Sport im Extremfall Beziehungen nicht mehr funktionieren.
Hilfreich sei es in solchen Fällen, wenn mehrere Menschen aus dem Umfeld des Betroffenen darauf hinweisen. Wenn ein exzessiv Sporttreibender immer wieder höre "Das ist nicht normal, was Du da machst", vergrößere sich vielleicht der Leidensdruck und die Chance zur Einsicht.
Insofern sei wichtig, das Problem anzusprechen. Auch wenn es sich schwierig gestalte. Der Betroffene fühle sich kritisiert und verletzlich. Aber er könne positiv registrieren, dass man sich um ihn sorge. "Manchmal muss ein Mensch von vielen Seiten hören, dass man sich Sorgen um ihn macht", so Loy.
Auch bei einer Sportsucht gibt es Entzugserscheinungen
Gibt es wie bei anderen Süchten auch bei einer Sportsucht Entzugserscheinungen? "Bei einer Sportsucht ist Sport die Droge. Wenn die Droge nicht da ist, entsteht Leid. Die Leidenden können nicht einfach pausieren", so der Fachmann. Entzugserscheinungen äußern sich in Unruhe, Reizbarkeit, Nervosität, Ängstlichkeit, Depressivität oder auch Getriebenheit. Schlafstörungen seien eine mögliche Folge. "Wenn ich doch nur zur Ruhe kommen könnte" oder "Wenn ich doch nur mein Pensum geschafft hätte", seien die Gedanken, die einen rastlos machen würden.
Ist das Phänomen der Sportsucht in den letzten Jahren stärker geworden? Davon geht Guido Loy aus. Seit dem Aufkommen der Fitnessstudios in den 90er Jahren habe die damit einhergehende Fitnesswelle nicht nachgelassen. Das gelte auch für die in der Öffentlichkeit bestehenden Ideale und Bilder, wie man sein sollte. Extremsportarten befänden sich zudem nach wie vor im Aufwind. Körperkult, Leistungs- und Selbstoptimierung und Perfektionismus hätten zugenommen. Menschen würden vermehrt von sich selbst viel fordern. Und manchmal auch zu viel.