Es scheint befremdlich, in Deutschland von Armut zu sprechen. Federt der Sozialstaat nicht die größte Not ab? Wenn man Armut hört, denkt man eher an Entwicklungsländer und hungernde Menschen. Und doch gibt es Armut in der Bundesrepublik und auch im Landkreis Rhön-Grabfeld. Diese Erfahrung haben Helmtrud Hartmann und Lothar Schulz schon mehrfach gemacht. Sie arbeiten bei der Diakonie Bad Neustadt und werden durch deren Beratungsstelle "Kirchliche allgemeine Sozialarbeit (KASA)" tagtäglich mit akuten Notlagen konfrontiert.
"Es gibt definitiv Armut in Rhön-Grabfeld", erklärt Lothar Schulz gegenüber dieser Redaktion. Die Gründe dafür seien vielfältig: Krankheit, Jobverlust, Unwissenheit darüber, dass man berechtigt wäre, Ansprüche geltend zu machen. Scham, weswegen man die Probleme nicht offen legt. Angst, dass die Kinder in Regress genommen werden, oder auch Sprachschwierigkeiten. "Und nicht zuletzt schreckt die Bürokratie viele Menschen ab oder macht sogar eine Hilfe unmöglich."
"Armut ist relativ", ergänzt Helmtrud Hartmann. Sie hat bei der Diakonie die Leitung der sozialen Dienste in Bad Neustadt inne. Der Begriff hänge sicherlich davon ab, wo man lebt - ob in Deutschland oder in Afrika oder zum Beispiel in Rumänien. Fakt sei jedoch, dass auch in Deutschland bei den finanziellen Mitteln die Schere sehr weit auseinandergeht.
Hilfe bei der Beratung und Beantragung von Leistungen
Was macht die "Kirchliche allgemeine Sozialarbeit"? "Alles", sagt daraufhin Lothar Schulz, "wie der Name schon sagt". Sie helfe bei der Bewältigung von persönlichen Lebenskrisen. Ihr Schwerpunkt liege jedoch auf der Beratung und Beantragung von Leistungen sowie auf der Unterstützung beim Umgang mit Behörden. 2021 wurden etwa 70 Personen oder Familien teilweise mehrfach unterstützt.
Den klassischen "Armutsfall" gebe es nicht, betonen Hartmann und Schulz. Eine Notlage könne zum Beispiel entstehen bei jemandem, der einen Minijob hat und Aufstockungsleistungen erhält. Plötzlich falle der Minijob weg. Daraufhin müsse beim Jobcenter eine höhere Aufstockung beantragt werden. Während dafür alle Unterlagen gesammelt werden, werde die nächste Miete fällig. Und schon sei man in einer Notlage.
Die beiden Diakonie-Beschäftigten schildern eine Situation aus ihrem Beratungsalltag. Ein älterer Mann habe mietfrei im eigenen Haus, das für ihn allein eigentlich zu groß ist, gewohnt. Zwar nur im unteren Geschoss, dennoch habe auch das Obergeschoss regelmäßig gewärmt werden müssen. Eines Tages sei der Heizöltank leer gewesen. Das geltende Heizkostenlimit beim Sozialamt sei ausgereizt gewesen - auch angesichts des großen Hauses, das energetisch nicht auf dem neuesten Stand gewesen sei. Was nun? Gemeinsam habe man nach einer Lösung gesucht und schließlich auch Hilfe organisieren können.
Auch in Rhön-Grabfeld gibt es Menschen ohne Krankenversicherung
Oder: Bei einer Familie sei die Waschmaschine kaputtgegangen. Für Ansparungen hätten die Jahre zuvor schlichtweg die Möglichkeiten gefehlt. Daraufhin habe man ein Darlehen beim Jobcenter beantragt. Unglücklicherweise habe kurz darauf auch noch der Backofen nicht mehr funktioniert. Ein weiteres Darlehen sei nicht möglich. Also habe man sich entschlossen, künftig ohne Backofen auszukommen. "Für mich ist das Armut", erklärt Helmtrud Hartmann. "Wenn ich nicht mehr das Essen zubereiten kann, das ich möchte, dann bin ich arm." Sie und ihr Kollege verweisen auch darauf, dass - obwohl es nahezu nicht möglich ist - Menschen aus der Krankenversicherung fallen würden. Auch im Landkreis Rhön-Grabfeld gebe es Menschen ohne Krankenversicherung.
Schutz vor Notlagen soll staatlicherseits die Grundsicherung bieten. Diese beantragt man, wenn die Einkünfte im Alter oder bei voller Erwerbsminderung nicht für den Lebensunterhalt ausreichen. "Grundsicherung bedeutet Grundsicherung und geht nicht darüber hinaus", erläutert Helmtrud Hartmann. "Allein mit der Miete und den Heizkosten kommt einiges zusammen. Da bleibt nicht mehr viel zum Leben übrig." Sie macht dabei auch auf die derzeit steigenden Energiekosten aufmerksam. "Das wird für einige richtig bitter."
Häufig müssen verschiedene ergänzende staatliche Leistungen bei unterschiedlichen Stellen beantragt werden. Und jedes Mal müssen die erforderlichen Unterlagen beigefügt werden. Zumeist die gleichen - von der Geburtsurkunde bis zur Verdienstbescheinigung. Sei es beim Jobcenter, beim Sozialamt, der Familienkasse, der Kindergeldstelle oder der Wohngeldstelle. "Da kommen mal locker 30 Euro nur für Kopien zusammen", führt Schulz aus. "Das ist viel Geld, wenn man keins hat."
"Wenn ich das Sozialgesetzbuch umschreiben dürfte, würde ich alles in eine Hand geben", fügt der 59-jährige Mellrichstädter an. Eine zentrale Erfassungsstelle prüfe, ob alle Unterlagen da sind. "Wenn ja, dann Stempel drauf und es kann losgehen." Helmtrud Hartmann bekräftigt diesen Wunschgedanken: "Wir haben uns durch die Digitalisierung mehr erhofft."
Effektive Hilfe durch die "Einmal-Grundsicherung"
Ein Umstand macht die Beratung der Wohlfahrtsverbände und damit auch der Diakonie sehr wichtig: Gerade ältere Menschen oder Personen mit Migrationshintergrund hätten erhebliche Probleme dabei, Schreiben von Behörden zu verstehen und Formulare korrekt auszufüllen, schildert Lothar Schulz. "Eine einfache Sprache wäre ein großer Schritt nach vorne." Hinzu komme hier in der Region, dass die Elterngeldstelle in Würzburg sitzt und die Familienkasse in Schweinfurt. Wenn man eine Beratung wünscht, muss man entweder dorthin fahren, telefonieren oder sich online informieren. "Was machen aber in solchen Fällen Menschen, die die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend beherrschen?", fragt der Sozialpädagoge.
Ein Thema ist Lothar Schulz noch ein Anliegen: "Viele Menschen wissen nicht, dass sie 'Einmal-Grundsicherung' beantragen können." Wer dauerhaft über der Grundsicherung liege, aber in einem Einzelfall nicht in der Lage sei, beispielsweise eine Nebenkostenabrechnung zu bezahlen, könne diese beim Sozialamt einreichen.
"Wir können nicht immer helfen", sind sich Helmtraud Hartmann und Lothar Schulz bewusst. "Aber wir suchen zusammen nach Lösungsmöglichkeiten und sind manchmal auch über kleine Schritte dankbar."