
Bei Schnee, eisglatten Straßen und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt bleiben die meisten Menschen lieber in ihrer warmen Wohnung. Ewald Hartwig wagt sich an diesem frostigen Januartag trotzdem nach draußen: Er zieht Spikes über die Winterstiefel und los geht es. Seit mehr als 48 Jahren ist er als Postzusteller in Herschfeld und Umgebung unterwegs. Da können ihn ein paar Schneeflocken nicht aus der Ruhe bringen. Auch die steilsten Grundstücksauffahrten marschiert er scheinbar mühelos hinauf und hinunter – wohlgemerkt trotz Glatteis in einem beachtlichen Tempo.
"Ich kann nicht sagen, heute ist es zu kalt, ich breche ab. Zustellung ist Zustellung. Homeoffice ist ja auch schlecht bei uns", gibt Hartwig zu bedenken. "Aber man versucht dann doch, nicht auszurutschen. Auf die letzten Tage will ich nicht nochmal ins Krankenhaus oder das Auto kaputt machen", erzählt der 63-Jährige, der in Steinach lebt. Am 3. Februar trug er zum letzten Mal Post aus, danach trat er ein in die Freistellungsphase seiner Altersteilzeit.
Postzusteller Ewald Hartwig ist eine lokale Berühmtheit in Herschfeld
Bis dahin steckt er weiter lächelnd Briefe in Postkästen, liefert Pakete ab, steigt ein in sein Elektro-Postfahrzeug und an der nächsten Straßenecke wieder aus. Rund 170 Mal schwingt sich Ewald Hartwig an einem durchschnittlichen Arbeitstag ins Auto und wieder hinaus, um die knapp 800 Haushalte seines Zustellbezirks mit Post zu versorgen. 18 Kilometer fährt er, sechs Kilometer legt er zu Fuß zurück.

Im Minutentakt grüßt Hartwig Passanten, winkt Autofahrern, unterhält sich mit Spaziergängern. "Das ist der allerbeste Postbote!", ruft einer von ihnen, als er vom Pressetermin zum Ruhestand erfährt. In Herschfeld scheint Hartwig so etwas wie eine lokale Berühmtheit zu sein. Darauf lassen auch die über 100 "Gefällt mir"- Angaben und mehr als dreißig Kommentare auf den Facebook-Post von Sieglinde Büttner schließen.
"Nach sehr, sehr langen Jahren geht unser allerbester und beliebtester Postbote Ewald, der in Herschfeld Pakete und Briefe ausgeteilt hat, in den wohlverdienten Ruhestand. Vielen, vielen Dank für den stets pünktlichen und freundlichen Service. Wir werden dich alle vermissen", schrieb Büttner. Die Nutzer kommentierten mit "Bester Postbote ever", "Er kennt über 15 Leute bei uns im Büro mit Namen!! Der absolute Hammer!!!", "Tollster, nettester Postbote, den ich je kennenlernen durfte" oder "Immer freundlich, immer ein offenes Ohr... solch ein Postbote hat wirklich ein dickes Dankeschön verdient!!!"
"Er ist noch ein Postbote der alten Schule, sehr kundenfreundlich und zuverlässig. Er will alles unternehmen, damit der Kunde seine Post bekommt", bestätigt Stefan Wehner, Standortleiter der Post in Bad Neustadt. Manchmal bringt Hartwig seinen Kunden sogar ganz besonders schöne Post: Gerne erinnert er sich daran, als er einst die Benachrichtigung über einen Lottogewinn zustellte.
Ewald Hartwig: "Der Postbote und der liebe Gott wissen alles. Und mein Nachbar weiß noch mehr"
Als Postbote erfährt Hartwig viel Persönliches, weiß Bescheid über Ehen, Scheidungen, Geburtstage und hat noch die Mädchennamen seiner Postempfängerinnen im Kopf. Er weiß, wo die Leute arbeiten, wann sie von der Arbeit kommen, wo wessen Großeltern daheim sind. Dann fährt er Pakete kurzerhand dorthin, um sie doch persönlich zuzustellen.
"Ich mache das schon so lange, da gehöre ich zum Ortsbild 'meiner Herschfelder' dazu. Wie hat einer mal so schön gesagt: 'Der Postbote und der liebe Gott wissen alles. Und mein Nachbar weiß noch mehr'. Aber ich würde nie etwas Persönliches ausplaudern", meint Hartwig. 1975 begann er seine Ausbildung bei der Post in Bad Neustadt. Sein Berufswunsch wurde ihm in die Wiege gelegt, denn sein Opa war Postbote ebenso wie sein Vater, der seinen Kollegen die beliebten Steinacher Balling-Brote mitbrachte. Sein Neffe und der Mann seiner Nichte stellen auch Post zu.
Kundin Siggi Büttner und Ewald Hartwig verbindet eine gute Bekanntschaft
Bis auf eine achtjährige Unterbrechung durch unbezahlten Urlaub, um seine Mutter zu pflegen, ist Hartwig der Post treu geblieben. "Ich mag das selbständige Arbeiten und die frische Luft. Mein Grundarbeitsablauf ist vorgegeben, aber ich kann viel selbst bestimmen", erzählt der 63-Jährige.
Zu Beispiel, wann und wo er seine Pause einlegt. Wie an diesem Tag bei Sieglinde "Siggi" Büttner, der Verfasserin des Facebook-Beitrags. Sie freut sich, als der Postzusteller ihr das bestellte Fußmassagegerät bringt. "Seit 33 Jahren wohne ich in Herschfeld und seit 33 Jahren ist er mein Postbote", sagt sie. Inzwischen verbindet beide eine gute Bekanntschaft. Zur Feier eines seiner letzten Arbeitstage hat Büttner "ihrem" Zusteller ein Frühstück zubereitet.

"Ewald ist offen, zuvorkommend und hat das Herz am rechten Fleck. Und er liefert mir alles, was ich brauch', dahin, wo ich es haben will", lobt die 67-Jährige, während sie Kaffee, Wurst- und Käsebrote serviert. Einmal habe ihr jemand eine Postkarte mit "Siggi Herschfeld" geschickt, dank Ewald Hartwig sei sie trotz des lückenhaften Namens angekommen.
Ewald Hartwig aus Steinach blickt mit Wehmut seinem Abschied entgegen
"Wenn der Ewald aufhört, zieh' ich aus", scherzt Siggi Büttner, lacht und staunt, als er ihr erzählt, dass er früher bis zu 95 Mal im Jahr mit dem Rad zur Arbeit fuhr. 17 Kilometer sind es einfach von Steinach nach Bad Neustadt. "Ich habe den Job immer gerne gemacht, hatte gerne Kontakt zu den Kunden. Das wird mir auf jeden Fall ein bisschen fehlen. Aber vom Körperlichen her ist es schon gut so", sagt Hartwig.
Wenn er bald mehr Zeit hat, will er sich mit Haus- und Gartenarbeit beschäftigen, Rad fahren und wandern. Ewald Hartwig wird sich also weiterhin in der Natur bewegen. Nur bei starkem Schnee und Glätte bleibt er dann vielleicht doch lieber in seiner warmen Wohnung.