Während im Osten und Süden der Ukraine weiterhin brutale Kämpfe toben und täglich hunderte Menschen sterben, sind in der Hauptstadt Kiew alle Läden, Schulen, Kindergärten geöffnet. Es gibt keine Versorgungsengpässe, die Zahl der Stromabschaltungen ist stark zurückgegangen. Das berichtet Tobias Weihmann im Gespräch. Der 43-Jährige aus Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) lebt seit 2015 in Kiew. Seine Frau Alya Shandra ist Ukrainerin, die beiden haben eine dreijährige Tochter und einen neun Monate alten Sohn.
Weihmann ist Software-Entwickler, seine Frau Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenportals Euromaidan Press. Ende Februar 2022 waren sie zunächst nach Lwiw (Lemberg) im Westen geflohen. Anfang April verließen der Unterfranke und seine hochschwangere Frau schließlich doch die Ukraine und kamen nach Bad Neustadt. Nach der Geburt des Kindes kehrte die Familie im Herbst in die Ukraine zurück.
Wie geht es Ihnen heute, ein Jahr nach Beginn des Krieges? Ein Telefonat zum Jahrestag.
Tobias Weihmann: Wir haben es geschafft, soweit wie möglich zur Normalität zurückzufinden. Ich meine damit vor allem psychische Normalität. Wir waren ziemlich angeschlagen. Ich hatte seit dem 24. Februar letzten Jahres kein Buch mehr in die Hand genommen. Ich wollte keine Unterhaltung und reagierte völlig verständnislos, dass Leute in Urlaub fahren können, während hier ein versuchter Völkermord stattfindet. Diese Parallelität habe ich nicht ausgehalten. Das klingt jetzt ein bisschen ab, ich habe wieder angefangen zu lesen. Vorher habe ich mich lange nur auf meine Spendenaktionen für Nachtsicht- und Funkgeräte fürs Militär und auf meine Arbeit konzentriert. Inzwischen sind über 200.000 Euro gespendet worden, Tendenz weiter steigend.
Weihmann: Wir haben auf Weihnachtsgeschenke verzichtet und stattdessen für Artilleriemunition gespendet. Es mag von außen nicht nachvollziehbar sein, aber ich bin zutiefst überzeugt, dass das richtig und konsequent ist. Übel verschwindet nicht, wenn man sich mit ihm arrangiert. Man muss dazu bereit sein, über seinen Schatten zu springen - ich war Kriegsdienstverweigerer und Pazifist. Seit der Rückkehr aus Bad Neustadt fühlen wir uns alle wohler und ruhiger. Aus der Ferne zuschauen zu müssen, wie die eigene Heimat zerstört wird, dieses Gefühl der Machlosigkeit, war kaum auszuhalten. Meine Frau ist ja Journalistin, sie hat sich gefühlt wie ein Arzt, der durch eine Fensterscheibe ein Unglück sieht und nichts tun kann.
Weihmann: 99 Prozent der Zeit ist alles normal. Mein Puls geht beim Luftalarm nicht mehr automatisch hoch. Es gibt Gruppen bei Telegram, die Kontakte zur Armee haben oder öffentliche Daten auswerten. Dort kann man sehen, wann und wo Raketen oder Drohnen fliegen. In den meisten Fällen gibt es Alarm, weil Bomber zwischen Belarus und Russland hin- und herfliegen, die Überschallraketen abschießen können. Das passiert fast jeden Tag. Die schießen nicht, sondern es geht ihnen vermutlich darum, die ukrainischen Radarstationen zu aktivieren, um diese Informationen dann bei weiteren Drohnenangriffen zu verwenden. Diese Alarme werden hier inzwischen von allen ignoriert, sonst würde man wahnsinnig.
Weihmann: Ja, alle zwei Wochen oder so passiert wirklich was. Trotzdem gibt es ein gewisses Gefühl der Kontrolle. Auch weil die Luftabwehr der Ukraine inzwischen besser ausgestattet ist, auch dank deutscher Hilfe. Ohne diese Hilfe wären wir vermutlich nicht mehr am Leben. Fast 100 Prozent der Drohnen werden abgeschossen.
Weihmann: Hier in Kiew haben wir einen sehr privilegierten Blickwinkel. Das gilt natürlich nicht für die Frontstädte, die mit Artillerie beschossen werden. Dort ist es die Hölle, eine komplette Katastrophe. Die Waffen, die die Russen auf Kiew schießen könnten, die zielsichereren ballistischen Raketen, sind sehr teuer und werden nur selten eingesetzt. Ab und zu spürt man auch hier Explosionen, aber der Punkt ist: Es bringt offensichtlich nichts. Es ist ein kompletter Reinfall. Diese Terrorkampagne gegen das ganze Land ist ein reiner Fehlschlag, ein Verpulvern von Geld. Sie müssen 100 Raketen losschicken, damit zehn ankommen. Sowas stimmt dann tatsächlich optimistisch.
Weihmann: Wir haben Strom, wir haben Wasser, wir haben Wärme - und das nicht nur in Kiew. Das Stromnetz der Ukraine hat nun bereits seit fünf Tagen in Folge einen Energieüberschuss, Straßenbahnen und E-Busse fahren wieder. Dazu trägt natürlich auch das warme Wetter bei. Der schlimmste Winter seit der Unabhängigkeit scheint überstanden. Natürlich gibt es Bereiche in den umkämpften Gebieten, wo die Leitungen physisch zerstört sind. Da gibt es dann Ausfälle. Aber nicht, weil nicht genug Energie da wäre.
Weihmann: Sogar die nächtliche Straßenbeleuchtung ist wieder vollständig eingeschaltet! Das hat auch einen großen psychologischen Effekt. Es ist eine Sache, wenn man auf dem Land ist, eine stockfinstere Millionenmetropole ist dagegen beängstigend. Ich musste mal in einem großen Baumarkt mit der Taschenlampe nach dem gewünschten Artikel suchen. Ich kam mir vor wie in einem Zombiefilm. Nur ohne Plünderungen - die Kleinkriminalität ging, anders als in den Blackout-Szenarien, die manche für Deutschland an die Wand malen, in diesen Monaten merklich zurück.
Weihmann: In weiten Teilen des Landes gibt es alles. Die großen Supermärkte hatten während der Abschaltungen Aufenthaltsbereiche eingerichtet, wo man sich hinsetzen, sich aufwärmen und sein Handy auflagen konnte. Alle halten zusammen, keiner lässt sich verrückt machen. Jeder hat seine Art, den Stress zu kompensieren. Ich zum Beispiel habe unseren Luftschutzraum komplett umgebaut. Das ist jetzt vermutlich einer der schönsten Keller in Kiew, mit Hängematte, Kunst an den Wänden, künstlichen Palmen, einer Schaukel für die Kinder. Meine Frau hat mir schon verboten, da weiterzumachen. Sie sagt, kümmere dich lieber hier mehr ums Haus. Mit Freunden haben wir eine Solaranlage aufs Dach gesetzt. Jetzt könnten wir auch die Nachbarhäuser mit versorgen.
Weihmann: Wir haben hier nicht den Luxus, uns überlegen zu können, was wäre, wenn. Die Militärstrategen tun das natürlich. Jetzt geht es erst mal darum, dass Ukrainer überleben. Es ist allen klar, dass jeden Tag hunderte Ukrainer in den brutalen Kämpfen sterben. Die Russen jagen ihre Leute ohne Rücksicht auf eigene Verluste voran. Jetzt ist es wichtig, dass schnell die westlichen Panzer kommen.
Weihmann: Viele Diskussionen, die in Deutschland geführt werden, sind hier völlig undenkbar. Man käme niemals auf die Idee, dass es irgendwie besser werden könnte, wenn man der Brutalität Zugeständnisse macht. In Deutschland wird zum Beispiel völlig unkritisch immer wieder der Satz "alle Kriege enden am Verhandlungstisch" zitiert. So ein Quatsch! Der Zweite Weltkrieg und viele andere Kriege wurden beendet, weil das Ende militärisch erzwungen wurde. Es ist ein sehr merkwürdiges Verständnis von Pazifismus, wenn man anderen das Recht auf Selbstverteidigung abspricht, während man selbst in Sicherheit sitzt.
Das Recht auf Selbstverteidigung darf man selbstverständlich niemandem absprechen. Hier ist es aber so, dass die Ukraine für ihre Selbstverteidigung zwar das Personal stellt, alle Kosten dafür aber vom Westen getragen werden, in Form von Waffenlieferungen, Finanzierung des Staatshaushaltes bis hin zu den Kosten für die Unterbringung der Geflüchteten bei uns.
Schon aus ökonomischen Überlegungen sollte es im Westen eine Diskussion darüber geben, wie weitreichend und lange diese Unterstützung sein sollte, ohne die Geber-Staaten selbst zu ruinieren und ohne Kriegspartei zu werden. In den USA wird diese Diskussion in Kürze beginnen, denn in 2024 sind dort Präsidentenwahlen.
wie wäre es mit einem Besuch bei Lanz oder Co im deutschen Fernsehen?