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Kiew / Lwiw
Auf der Flucht vor Bomben und Raketen: Unterfranke berichtet aus der Ukraine
Tobias Weihmann und seine Familie haben es nach Lwiw im Westen des Landes geschafft. Die Ukraine verlassen will er aber nur kurz, um die Töchter in Sicherheit zu bringen.
Krieg in der Ukraine: Tobias Weihmann mit seiner zweijährigen Tochter im Luftschutzkeller in Lwiw (Lemberg).
Foto: Tobias Weihmann | Krieg in der Ukraine: Tobias Weihmann mit seiner zweijährigen Tochter im Luftschutzkeller in Lwiw (Lemberg).
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 17:21 Uhr

Zu Beginn des Gesprächs via WhatsApp entschuldigt sich Tobias Weihmann: "Es kann sein, dass ich etwas durcheinander erzähle. Wir haben in den letzten drei Tagen höchstens ein oder zwei Stunden geschlafen." Der 42-jährige gebürtige Bad Neustädter lebt seit 2015 in Kiew. Seine Frau Alya Shandra, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenportals Euromaidan Press, ist Ukrainerin, die beiden haben eine zweijährige Tochter, ein zweites Kind soll in einem Monat zur Welt kommen.

Auf der Flucht: Schnappschuss aus einem trügerisch friedlichen Vorort von Kiew.
Foto: Tobias Weihmann | Auf der Flucht: Schnappschuss aus einem trügerisch friedlichen Vorort von Kiew.

Am Freitag hat sich die Familie entschieden, Kiew doch zu verlassen: "Die Explosionen kamen immer näher", erzählt Weihmann. "Eigentlich hätten wir im Keller sein müssen, aber wir haben das Nötigste ins Auto geworfen und sind losgefahren. Ich habe mein ganzes Leben da zurückgelassen."

Die Familie schaffte es heil aus der Stadt heraus. Ein Nachbar hatte ihnen auf einer Karte gezeigt, wie sie die Straßenkämpfe umfahren mussten. 14 Stunden habe die Fahrt an vielen Checkpoints der ukrainischen Armee vorbei nach Lwiw (Lemberg) in der Westukraine gedauert, sagt Weihmann.  Gelegentlich hätten Kampfflugzeuge ihre Route gekreuzt, eine Brücke, die sie kurz zuvor überquert hatten, wurde zerschossen, erzählt der 42-Jährige: "Da stürzte ein Auto mit einer Familie ab."

In Lwiw stellen nun Freunde eine Wohnung zur Verfügung. In der Stadt herrsche relative Sicherheit, auch wenn noch am Samstag alle zwei Stunden Luftalarm war. "Die Versorgungslage ist gut, hier gibt es Brot. Das gab es in Kiew schon nicht mehr." Alles sei sehr gut organisiert, der Zugang zum Luftschutzkeller einer Schule beispielsweise nur mit Maske und Ausweis möglich. "Man versucht natürlich auch, Saboteure fernzuhalten."

Tobias Weihmanns zweijährige Tochter macht im Luftschutzkeller das beste aus der Situation und bringt mit einem Tänzchen viele Geflüchtete zum Lächeln.
Foto: Tobias Weihmann | Tobias Weihmanns zweijährige Tochter macht im Luftschutzkeller das beste aus der Situation und bringt mit einem Tänzchen viele Geflüchtete zum Lächeln.

Auch Shandras 13-jährige Tochter aus erster Ehe kam mit: "Sie hat sich von ihrem Vater verabschiedet, der sich den Streitkräften anschließen wird. Sie weiß nicht, ob sie ihn wiedersehen wird", sagt Weihmann. Die 13-Jährige werde sich auch an der Verteidigung beteiligen: "Früher haben wir versucht, die Teenager von zu viel Social Media abzuhalten. Jetzt wird sie per Tiktok die russischen Kinder und Jugendlichen aufklären, was hier passiert." In Russland gebe es ja eine Nachrichtensperre. "Sie schickt Bilder von zerschossenen russischen Konvois und von den Leichen der Soldaten. Das ist schrecklich, aber die Situation ist so schlimm, dass das moralisch absolut gerechtfertigt ist."

Die Menschen, die in Kiew bleiben, (über-)leben unter immer dramatischeren Umständen

Neben der unmittelbaren militärischen Bedrohung gibt es für die Familie eine zweite: Weihmanns Frau war und ist politisch engagiert. "Sie gehört zur ersten Zielgruppe von Putin", befürchtet Weihmann. "Das Risiko einzugehen, von irgendwelchen tschetschenischen Kommandos verhaftet zu werden, wäre Wahnsinn."

Die Menschen, die in Kiew bleiben, lebten und überlebten unter immer dramatischeren Umständen. So habe die Frau eines engen Freundes am Samstag im Bombenkeller eines Krankenhauses im umkämpften Kiewer Stadtteil Obolon ihr Kind bekommen. "Mutter und Kind sind gesund, aber es fehlt am Nötigsten. Kiew ist jetzt die Hölle."

Eine Freundin, wie Weihmann Software-Spezialistin, führt ein Online-Tagebuch und berichtet vom hastigen Zusammenraffen frischer Kleider, von der erbitterten Diskussion mit einer Putin-Anhängerin im Keller und von der Nachrichtenlage: "Alles sah so aus, als würde Kiew eingenommen werden. Ich döste in völliger Ohnmacht ein, und als ich aufwachte, fand ich heraus, dass Kiew zurückerobert wurde, es war erstaunlich. Dankbarkeit und Liebe zu den Soldaten, die Jungs kämpfen wie Löwen."

Die Frau eines Freundes brachte im Keller eines Krankenhauses im umkämpften Kiewer Stadtteil Obolon ihr Kind zur Welt. Alles lief gut, aber die Versorgungslage ist inzwischen sehr schlecht.
Foto: Privatbild, zur Verfügung gestellt von Tobias Weihmann | Die Frau eines Freundes brachte im Keller eines Krankenhauses im umkämpften Kiewer Stadtteil Obolon ihr Kind zur Welt. Alles lief gut, aber die Versorgungslage ist inzwischen sehr schlecht.

In der deutschen Politik habe sich viel geändert, erkennt Weihmann an. "Viel zu spät natürlich. Und man muss auch sehen, ob das nachhaltig ist. Jetzt müssen sich die Menschen massiv an ihre Politiker wenden und noch mehr Hilfe für die Ukraine einfordern. Und: Sie können für die Armee spenden. Das ist das, was jetzt rettet."

Seine Familie habe viele Hilfsangebote bekommen. "Aber wir sind nicht das Problem, sondern die Menschen, die in den Städten bombardiert werden. Und all die Heldinnen und Helden, die weiter dafür sorgen, dass Busse und Bahnen fahren, die an der Kasse sitzen oder im Radio ausharren, um die Leute zu beruhigen. Und die Tipps geben, wo man sich verstecken oder wie man mit Baumstämmen die russischen Panzerkolonnen aufhalten kann."

Erst kurz vor der Geburt will das Paar versuchen, nach Deutschland zu kommen

Der Plan des ukrainisch-unterfränkischen Ehepaars ist jetzt, die polnische Grenze zu überqueren und dort beide Mädchen in die Obhut von Weihmanns Eltern zu geben. Die Großeltern sollen die beiden nach Deutschland mitnehmen. Tobias Weihmann und seine Frau wollen dann in die Ukraine zurück: "Jetzt ist die Zeit, hier etwas zu tun. Da kann man nicht einfach nach Deutschland fahren. Die Menschen bestürmen uns, das Land zu verlassen, gerade so kurz vor der Geburt. Aber meine Frau kann und will das Land nicht verlassen. Sie würde sich bis ans Ende ihres Lebens Vorwürfe machen. Ihre Familie lebt seit 100 Jahren im gleichen Haus, sie ist tief eingebettet in ihre Netzwerke."

Erst unmittelbar vor dem Geburtstermin will das Paar versuchen, nach Deutschland zu kommen. Bis dahin: helfen wo es geht, nach draußen berichten, in Kontakt bleiben mit anderen politisch Engagierten. "Zusammenhalt ist die einzige Chance auf Frieden", glaubt Weihmann. "Alle machen mit." Und dann nennt er noch ein Beispiel: "Die Öko-Initiative 'Kiew ohne Müll' stellt gesammeltes Leergut für Molotow-Cocktails zur Verfügung."

 
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  • W. B.
    Vielen Dank an die Main-Post für die regelmäßigen Berichte der Augenzeugen!
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