Es piept. Schrill und immer schneller. Die Zahl im Display wird mit jedem Schritt niedriger, ein Tropfen landet auf dem Richtungspfeil. Zwanzig. Zwölf. Acht. Bei fünf geht Klemens Baumann in die Hocke, läuft geduckt weiter über die matschige Wiese. Sein Lawinen-Verschütteten-Suchgerät – kurz LVS-Gerät – hält er knapp über dem Boden. Das Piepen wird immer aufgeregter, Baumann bleibt stehen, schwenkt prüfend mit dem Plastikkästchen nach rechts und links.
Dann lässt er seinen Handschuh fallen. "Genau hier würde der Verschüttete liegen", sagt der Fachübungsleiter Schneeschuhbergsteigen des DAV Main-Spessart. Der Ton aus dem Suchgerät ist mittlerweile durchdringend. Jetzt muss es im Ernstfall rasend schnell gehen.
15 Minuten. So lange hat ein verschütteter Mensch gute Chancen, eine Lawine zu überleben. Wenn ihm geholfen wird. Und wenn die Helfer alles richtig machen.
Das aber ist nicht selbstverständlich. Millionen Sportler sind im Winter in den Bergen unterwegs, immer mehr auch abseits der gesicherten Pisten. Allein 600 000 Ski- und Snowboardtourengeher gibt es nach Schätzungen des Deutschen Alpenvereins (DAV) bundesweit. Hinzu kommen Skifahrer, Schneeschuh-Wanderer, Rodler, Langläufer, Snowboarder. Viele seien mittlerweile zwar mit LVS-Geräten ausgestattet, sagt Klemens Baumann. "Aber das allein reicht nicht. Nur mit einem LVS-Gerät kann man niemanden retten". Schaufel und Sonde gehörten genauso zur Ausrüstung. Und das Wissen, was im Notfall zu tun ist.
Genau das probt die Gruppe des Alpenvereins beim Kurs rund um das Forsthaus Sylvan im Spessart. Geübt wird die Suche nach Lawinen-Verschütteten. Auch wenn von Schnee in Unterfranken in diesem Februar-Wochenende nichts zu sehen ist. Mehr als zehn Grad plus und Dauerregen meldet der Wetterdienst. Statt durch eine weiße Winterlandschaft stapfen die Teilnehmer über grün-braune Wiesen.
"Gut so", sagt Katja Manger, 1. Vorsitzende des DAV Main-Spessart und Fachübungsleiterin Bergsteigen. Gemeinsam mit Baumann bietet sie den Kurs seit über zehn Jahren regelmäßig an. Schnee ist dabei paradoxerweise unerwünscht – denn wenn die Kursleiter die LVS-Geräte verstecken, würden sie dann deutliche Spuren hinterlassen, die später die Suchenden beeinflussen.
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An diesem Kurs-Tag kein Problem. Das Gras ist vom Dauerregen platt gedrückt und vor allem eines: nass. Vormittags hat die Gruppe bereits versucht, in Regenjacken und dicken Bergschuhen dem Wasser zu trotzen. Auf dem Weg vom Wanderparkplatz zur Gaststätte wurde schnell klar, dass es gar nicht einfach ist, die Neigung eines Hanges richtig einzuschätzen. Generell gilt: "Je steiler ein Hang, desto größer die Lawinengefahr", sagt Katja Manger. "Über 30 Grad wird’s gefährlich." Was das für die Tourenplanung heißt und wie man den Lawinenlagebericht richtig liest, lernen die sieben Kursteilnehmer dann drinnen im Trockenen.
In den vergangenen sechs Jahrzehnten starben in Bayern 128 Menschen in Lawinen
In der Stube der Sylvan-Hütte ist es warm. Es riecht nach feuchter Kleidung und Bratwürsten. Mittagspause. Die Theorie ist fast geschafft. Danach wird gerettet. Sobald die Teller leer sind, erklärt Katja Manger die Alarmierung im Notfall. Wichtig dabei: "Der Notruf 112 geht immer". Europaweit. Gleiches gilt für das mit den erhobenen Händen und dem Körper geformte "Y". Das Zeichen heißt für die Luftretter: "Ja, ich brauche Hilfe".
Dann geht es mit Schaufel, Sonde und LVS-Geräten raus auf die Wiese. "Stellt euch vor, dort hinten ist eine Lawine abgegangen", sagt Katja Manger. Sie zeigt in Richtung des tropfenden Waldes. Die Kursteilnehmer brauchen jetzt einiges an Fantasie. Verschneite Alpen sehen anders aus.
Niemand weiß genau, wie viele Lawinen dort jedes Jahr die Berge hinabrollen. Zwar gab es nach Angaben des Bayerischen Lawinenwarndienstes seit Ende der 1960er Jahre auf den überwachten und freigegebenen Pisten im Freistaat keinen tödlichen Lawinenunfall mehr. Abseits davon kamen jedoch seit 1965 in abrutschenden Schneemassen 128 Menschen ums Leben.
Der Lawinenwarndienst gibt deshalb in den Wintermonaten jeden Tag um 17.30 Uhr für die bayerischen Alpen den Lawinenlagebericht heraus. Die Höhe der Gefahr wird in fünf Stufen eingeteilt. Doch auch wenn die Experten für den Bericht und die Warnstufe zahlreiche Daten und Beobachtungen auswerten, können sie über die Verhältnisse an jedem einzelnen Hang keine Auskunft geben.
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Deshalb sei Eigenverantwortung am Berg Voraussetzung, sagt Katja Manger. Bis die Bergwacht aus dem Tal einen Unfallort erreiche, würden meist mehr als 15 Minuten vergehen. Zu viel Zeit für Verschüttete. "Die Kameradenhilfe ist entscheidend."
Bei der Suche nach Verschütteten gilt es, schnell und genau zu sein
Und die wird jetzt geübt. Alexander Hofer übernimmt in der Gruppe um Klemens Baumann als erster die Führung. Er verteilt Schaufel und Sonde, bittet sein Team, den fiktiven Notruf abzusetzen. Dann will er mit dem LVS-Gerät losstürmen. "Halt!", sagt Baumann. "Alle außer dem Suchenden bitte die LVS-Geräte ausschalten!" Im Notfall sei das wichtig, die Signale der sensiblen Geräte könnten sonst gestört werden. Auch Handys sollten deshalb von Anfang an im Flugmodus sein.
Konzentriert richtet Hofer seinen Blick wieder auf das Display, läuft zielstrebig in Richtung des schwarzen Pfeils. Das Piepen begleitet seine Schritte. Als es anschwillt, geht er in die Knie, sucht gebückt weiter. Links, rechts, wie von Baumann demonstriert, forscht er nach dem niedrigsten Entfernungswert auf dem Bildschirm. Schließlich ist er zufrieden und lässt seine Mütze fallen. Paula Ebert zieht die Sonde aus und sticht genau an der markierten Stelle in den Boden. Es knirscht. Das versteckt LVS-Gerät! Alexander Hofer streicht das Gras zu Seite. "Ich hätte ihn genau gehabt."
Für das DAV-Mitglied ist es nicht der erste Lawinenrettungs-Kurs. "Wie bei Erste-Hilfe-Kursen sollte man sowas immer wieder auffrischen." Hofer ist gerne und oft in den Bergen unterwegs, im Winter am liebsten auf Tour mit Schneeschuhen. In eine Lawine sei er dabei bisher nicht geraten, "zum Glück". Im Zweifel wolle er sich aber sicher fühlen. "Die Rettungsschritte müssen automatisch ablaufen, wie eine Schallplatte", bestätigt Klemens Baumann.
Der Ausbilder weiß wovon er spricht. Er begleitet für den DAV Main-Spessart seit über zehn Jahren Touren ins winterliche Gebirge. Im Ernstfall gehe es um die richtige Balance zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit. Schnell beim Ort des Lawinenabgangs sein, schnell den Verschütteten finden. Gleichzeitig ganz genau dem Signal des Gerätes folgen. "Zwei Versuche zu graben hat man meistens nicht", sagt Baumann.
Wie Katja Manger auch ist er "so oft es geht am Berg unterwegs". Noch im Februar etwa begleitet Manger eine DAV-Gruppe Schneeschuh-Wanderer bei einer Genuss-Tour in die Lechtaler Alpen, Baumann führt an Fasching alpin orientierte Schneeschuh-Tourengeher in den Kitzbühler Alpen. Voraussetzung ist immer ein absolvierter LVS-Kurs. Dessen Grundlagen werden dann am ersten Tag in den Bergen aufgefrischt.
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Mit dabei sein an Fasching will auch Paula Ebert, wenn noch ein Platz frei wird. Wandern gehört für sie dazu, egal ob im Sommer oder Winter. Sie ist die nächste in der Übungsgruppe, nimmt den gelb-grauen Plastikpiepser in die Hand, prüft die Richtung des Signals und startet. "Am Anfang ist es nicht leicht, den richtigen Abstand zum Boden zu finden", sagt Ebert. Klemens Baumann nickt, führt Eberts Hand mit dem Gerät tiefer, knapp zehn Zentimeter über der Erde. Es piepst lauter. Nach wenigen Minuten hat Ebert dann den kleinsten Wert gefunden – und wäre fast auf das versteckte Gerät getreten. "Hier im Grünen ist die Suche kein Problem", sagt Ebert. "Im Notfall aber kommt die Aufregung dazu. Da wird es schwieriger."
Deshalb werden Katja Manger und Klemens Baumann mit ihren Gruppen auch am ersten Tag in den Bergen die LVS-Grundlagen wiederholen. Dann sicher mit Schnee. Aber hoffentlich ohne Lawinen. Und im Spessart trainieren die DAV-Mitglieder im nächsten Winter wieder.