Heute weiß der Skitourengeher, wie viel Glück er in diesem Moment hatte. Und dass die Situation damals, als er am Hochvogel in den Allgäuer Alpen unterwegs war, hätte tödlich enden können können. Der Oberallgäuer erinnert sich noch genau an das „Wumm-Geräusch“, das über ihm losbrach, kurz nachdem er den steilen Hang gequert hatte. „Hundert Meter über mir hatte sich ein riesiges Schneebrett gelöst und erfasste mich Sekunden später“, erzählt er. Die Schneemassen waren „wie ein reißender Fluss“, sie zogen ihm die Füße weg und rissen ihn 200 Meter mit nach unten.
Der Skitourengeher hatte Glück. Als die Lawine zum Stillstand kam, lugte sein Kopf noch aus dem Schnee. Sein Partner, der hinter ihm gelaufen war und nicht verschüttet wurde, half ihm, sich zu befreien. Die Männer hatten einen Fehler gemacht, der ihnen beinahe zum Verhängnis geworden wäre: Obwohl über Nacht 20 Zentimeter Schnee auf die verharschte Altschneedecke gefallen waren, hatten die beiden an diesem Sonntag im März den steilen Hang gequert und dabei die Lawine selbst ausgelöst.
40 Minuten unter Schneemassen überlebt
Wie viele Lawinen in den Alpen abgehen, lässt sich kaum schätzen – auch nicht, wie viele es im Allgäu sind. Erst vor zehn Tagen wurde eine 37-jährige Skifahrerin von Schneemassen erfasst und verschüttet. Sie überlebte 40 Minuten darunter, ehe die Helfer sie orten konnten. Zuvor hatte sich im Januar die Situation zugespitzt. In großen Teilen der Alpen herrschte akute Lawinengefahr, Straßen und Wege musten gesperrt werden, Urlauber saßen fest.
Jedes Jahr sterben 120 bis 140 Menschen in den Alpen durch Lawinenunfälle. Darunter viele Wintersportler, die abseits der gesicherten Pisten unterwegs sind. Bergführer und Bergwacht-Mann Bernd Zehetleitner aus dem Oberallgäuer Burgberg erklärt, dass das natürlich auch mit den Trendsportarten zusammenhängt: Denn Freeriden abseits gesicherter Pisten boomt, ebenso Skitouren- und Schneeschuhgehen. Viele, sagt Zehetleitner, hätten die entsprechende Sicherheitsausrüstung dabei. Doch längst nicht alle könnten im Ernstfall damit umgehen.
Die Sicherheitsausrüstung ist die eine Sache, die vernünftige Tourenplanung die andere. Im Vorfeld einen Blick in den Lagebericht des Lawinenwarndienst zu werfen, den die Experten im Winter jeden Tag aktualisieren, ist heute selbstverständlich.
Das war nicht immer so. Die Katastrophe ereignete sich am 15. Mai 1965. Viele Wintersportler tummelten sich an diesem Tag auf dem Zugspitzplatt beim Frühlingsskilauf, andere sonnten sich vor dem Hotel Schneefernerhaus. Plötzlich löste sich oberhalb des Hotels ein riesiges Schneebrett. Die Lawine raste über die Terrasse des Hotels und fegte alles hinweg. Dort kamen sieben Menschen ums Leben, zwei Tote wurden in den Trümmern einer Seilbahn entdeckt. Von den 17 Verletzten starb später einer im Krankenhaus.
1967 ging der Lawinenwarndienst in Betrieb
Das Unglück war der Auslöser, einen Lawinenwarndienst in Bayern aufzubauen. 1967 ging er in Betrieb. Seither gibt er vom Beginn der Wintersaison im Dezember bis etwa Mitte Mai jeden Tag um sieben Uhr einen Lawinenlagebericht heraus. Nicht nur für Wintersportler abseits gesicherter Pisten, sondern auch für Liftbetreiber, Verantwortliche in Gemeinden und bei Sicherheitsbehörden gilt dieses Bulletin als tägliche Pflichtlektüre.
Basisdaten für die Lagebeurteilung liefern unter anderem 20 automatische Messstationen. Eine davon ist beispielsweise auf dem Koblat im Nebelhorngebiet bei Oberstdorf. Die Station übermittelt ständig Daten von Lufttemperatur, Niederschlag und Schneehöhe sowie der Intensität der Sonneneinstrahlung. An diesem Tag ist Henry Schmölz vom Lawinenwarndienst vor Ort. Zusammen mit einem anderen Mitarbeiter montiert er einen neuen Windmesser. Die Stationen müssten ständig gewartet werden, erklärt Schmölz. Denn sie sind extremen klimatischen Bedingungen ausgesetzt, allen voran starkem Wind und großen Temperaturschwankungen.
Die automatisierten Messstationen reichen vom Jenner bei Berchtesgaden bis zum Hochgrat im Allgäu. Darüber hinaus braucht es eine Vielzahl weiterer Daten. Diese werden täglich von Ehrenamtlichen geliefert – von Bergführern, Skilehrern, Hüttenwirten oder Mitarbeitern der Seilbahnen.
Ehrenamtlich im Einsatz für mehr Sicherheit
Einer von ihnen ist Thomas Hafenmair, den wir an der Tegelbergbahn nahe Schwangau (Ostallgäu) treffen. Der 50-Jährige ist Lehrer, Bergführer und Bergretter und seit 16 Jahren als ehrenamtlicher Beobachter für den Lawinenwarndienst im Einsatz. Mit seiner Erfahrung und seinem Gespür für den Schnee soll er die Lawinengefahr beurteilen und den Schneedeckenaufbau analysieren. „Die Beobachtungen vor Ort ergänzen die Informationen, die automatisch zur Warnzentrale nach München gesendet werden“, erklärt Hafenmair, während die Bahn den Tegelberg hinauffährt. Sein Blick schweift ins Gelände: Wo gibt es Schneebrettabgänge? Wo sind Risse in der Schneedecke zu sehen? Wo sind sogenannte Lawinenmäuler entstanden?
Hafenmair ist Bergsteiger, Skitourengeher und Bergführer aus Leidenschaft. Als er an der Bergstation in die Skibindung steigt, sagt er einen Satz, der pathetisch klingt: „Es ist schön, in den Bergen zu arbeiten und sich jeden Tag aufs Neue mit der Natur und der Schneedecke auseinandersetzen zu dürfen.“ Einige hundert Höhenmeter fährt er die Piste hinunter, dann biegt er ins Gelände ab, hält wenig später an und greift zur Lawinenschaufel. Die anderthalb Meter hohe Schneedecke gräbt er bis zum Boden ab. „Jetzt wird es spannend“, sagt Hafenmair und macht eine kleine Kunstpause. Er will wissen, „was in der Schneedecke los ist“. Beispielsweise, wo sich Schwachstellen befinden, die durch Graupelschichten oder Oberflächenreif entstehen können. Solche Schichten wirken wie ein Kugellager, darauf können Schneebretter leicht abgleiten. Das Element Schnee sei so schnell veränderbar und unterliege einem ständigen Wandel, sagt Hafenmair.
In der Münchner Zentrale wird alles verarbeitet
Seine Beobachtungen schreibt der 50-Jährige zusammen und schickt sie dem Lawinenwarndienst. Dieser veröffentlicht auch solche regionalen Wochenberichte aus den Bayerischen Alpen. „Schattseitig ist der Schnee oft kantig, aufgebaut und vielfach stark verfrachtet. Überdeckt wird das Ganze von frischem Neuschnee“, beschrieb etwa Gebietskenner Kristian Rath aus Bad Hindelang die Situation vergangene Woche in den Oberallgäuer Bergen.
All die Informationen, die von Ehrenamtlichen in 33 örtlichen Lawinenkommissionen geliefert werden, werden in der Zentrale in München verarbeitet. An diesem Morgen ist Hans Konetschny für den Bericht zuständig. Immer wieder klingelt sein Telefon. Immer wieder fragt er: „Wie sieht es bei dir aus?“ Das Ganze sei „wie ein Puzzle, das sich im Kopf zusammensetzt“, bemüht der Warndienst-Leiter einen Vergleich. Eine weitere Herausforderung sei es dann, die Unterschiede in den Regionen zu formulieren. Seit einigen Jahren differenziert der Lagebericht sehr genau zwischen den verschiedenen Gebieten der Bayerischen Alpen. Je nach Wetterlage und Niederschlagsintensität kann die Lawinensituation in den Berchtesgadener Alpen ganz anders aussehen als beispielsweise im Allgäu oder in den Ammergauer Alpen.
Seit vergangener Saison veröffentlicht der Lawinenwarndienst in München zudem täglich um 17.30 Uhr eine Prognose für den nächsten Tag. Viele Wintersportler finden das hilfreich und gut. Schließlich sind vor allem Tourengeher im Frühjahr oft schon seit Stunden unterwegs, wenn der aktuelle Bericht um sieben Uhr herauskommt.
100-prozentige Sicherheit gibt es wohl nie
Immer mehr Daten, immer bessere Analysemethoden, immer neue Erkenntnisse über die Vorgänge in der Schneedecke. Da fragt man sich natürlich: Wird es irgendwann möglich sein, hundertprozentige Aussagen über die Lawinengefahr machen zu können? Wohl nicht, glauben Fachleute. Denn selbst sie treffen immer wieder Fehleinschätzungen, wie Unfälle mit beteiligten Bergführern oder Skilehrern zeigen.
Thomas Hafenmair wird nicht müde, Jugendliche für das Thema Lawinengefahr zu sensibilisieren. Manchmal erzählt er dann auch von dem Erlebnis, das er als Bergretter im Januar 2006 hatte: Vier junge Snowboarder waren am Tegelberg unterwegs. Bei großer Lawinengefahr waren sie abseits der Piste in einen steilen Hang gefahren und hatten ein Schneebrett ausgelöst. Einer wurde verschüttet und geborgen, aber er starb wenig später im Krankenhaus. Der Bergführer hat sich danach gesagt: „Es muss etwas passieren.“ Das war die Geburtsstunde der Aktion „Check Your Risk“ („Überprüfe, welchen Risiken Du Dich aussetzt“), die sich vor allem an junge Wintersportler richtet und heute federführend von der Jugend des Deutschen Alpenvereins fortgeführt wird.
Ende vergangenen Jahres ist daraus ein zehnminütiger Film entstanden, der vor allem Jugendliche ansprechen soll. „Wir wollen die vielen Gefühle beim Thema Freeriden zeigen“, sagt Lukas Amm, Leiter der Initiative. „Es geht um Freiheit und Übermut, um Spaß und Aufregung, um das Adrenalin – aber auch um den Ernst der Lage.“ Der sehr emotionale Film soll wachrütteln: Freeriden ist cool, aber es kann auch gefährlich sein. Deshalb: „Check Your Risk“. Und dazu gehört – nicht nur, aber unabdingbar – der Lawinenlagebericht.
1. Vorsitzende, Fachübungsleiterin Bergsteigen und Schneeschuhbergsteigen! Infos unter www.dav-main-spessart.de