
Horror fasziniert. Mit gar grausigen Geschichten wachsen Kinder seit Jahrhunderten auf. Die von mehrfachen Mordversuchen an einem bildhübschen Mädchen namens Schneewittchen ist nur eine davon. Etwas Horrendes sorgte vor fünf Jahren in Lohr für die Befriedung einer aufgeheizten Atmosphäre: Ein einfaches Graffito, alsbald Horrorwittchen getauft, löste geradezu einen Hype aus.
Die gewitzten Fabulologen

Die Vorgeschichte ist hinreichend bekannt. Vor 35 Jahren verortete das weinselige Dreigestirn – Apotheker Karlheinz Bartels, Schuhmachermeister Helmuth Walch und Museumsleiter Werner Loibl – das Märchen Schneewittchen mit fabulologischer Gewitztheit in Lohr. Das Märchen selbst ist viel älter: Die Gebrüder Grimm hatten es 1812 als Nummer 53 in ihre Kinder- und Hausmärchensammlung aufgenommen.

Knapp drei Jahrzehnte gingen ins Land, da beschloss der hohe Rat der Stadt, der touristischen Symbolfigur ein Denkmal zu setzen. Der Kunstwettbewerb ging in die Hosen: Die Ausschreibung hatte Mängel und das Siegermodell des Laudenbacher Bildhauers Peter Wittstadt war so gar nicht mit der idealisierten Bilderbuch-Schönheit in Einklang zu bringen.
Nicht nur die Kosten sorgten für Entsetzen
Mit dem unförmigen Körper, den kurzen Ärmchen, den Glubschaugen und den fliegenden Rasta-Zöpfen kritisierten Einheimische die Skulptur als Ausgeburt der Hässlichkeit. Zudem sollte die Umsetzung des Modells in eine drei Meter hohe Bronzestatue die Stadt auch noch über 100 000 Euro kosten.
Der Erregung stieg, als im November 2014 erste Fotos veröffentlicht wurden. Sie zeigten den Künstler bei der Arbeit an dem weißen Gipsmodell in Originalgröße. Der Kunstskandal eskalierte, lockte Journalisten scharenweise in die Kleinstadt am Main.
Gefundenes Fressen für das Kunst-Additum
Wochenlang hielt der Sturm der Entrüstung an. Er beschäftigte Schnüdel, Mopper und Medien, aber auch Daniel Freitag, seines Zeichens Kunstlehrer am Lohrer Gymnasium. Der Kunststreit: gefundenes Fressen für die Schüler seines Additums, also jene Oberstufenschüler, die Kunst als Abiturfach gewählt hatten.

Einer von ihnen war Valentin Lude. "Oh Gott, was wird das denn jetzt?", schießt es ihm durch den Kopf, als er die Fotos erstmals sieht. Obwohl "schon eher künstlerisch" veranlagt und ein "Fan von moderner Kunst", ist der 17-Jährige zunächst irritiert, wie er fünf Jahre später erzählt. "Ich hab die Skulptur nicht ganz verstanden, fand's aber trotzdem eine coole Figur."
Angeregt vom Kunstlehrer, überlegte Lude "ein bisschen". Er fand es "schwierig", wie öffentlich über die Skulptur gelästert wurde. Wittstadt habe den Preis legitim gewonnen. "Ich fand's nicht okay, wie die Debatte eskaliert ist. Er wurde ja fast schon beleidigt. Viele haben versucht, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen." Spätabends kam ihm die zündende Idee, er fertigte eine kleine Skizze an.
Tags darauf, am 30. November, schnitt er drei Zwerge aus dem dicken, welligen Weinflaschenkarton. Dazu in etwa die Umrisse des Wittstadt'schen Horrorwittchens mit - in Abwandlung des Originals - einem erhobenen Arm und Messer in der Hand. Laufen die Zwerge - symbolisch für das Volk - vom drohenden Wittchen davon? "Das war nicht meine Absicht", beteuert Lude heute. Er habe lediglich der Schmähung des Künstlerkollegen Wittstadt etwas entgegensetzen wollen. "Es sollte was Lustiges sein, nicht bösartig."

Seine Schablonen nahm er mit zur Unterführung zwischen Bauhof und Friedhof. Die Stadt hatte die frisch geweißelten Wände freigegeben für eine Sprühaktion des Jugendzentrums, wo "Valle" aktiv ist. Denn als seine Familie von England nach Lohr kam, gab diese Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt dem damals 15-Jährigen das Gefühl, "dass ich daheim bin hier".
Das Trio vom Juze sprüht also legal. Doch die Aktion steht unter keinem guten Stern: Der Samstag ist kalt. "Die Finger sind schnell klamm geworden, das Fingerspitzengefühl ging verloren, der Druck in der Sprühdose war nicht so hoch." Lude sprühte sein großflächiges Graffito in Grau- und Schwarztönen, Nachtblau und Giftgrün, ausladend, um die vier Meter breit. "Das hat mir gar nicht gefallen", hadert er noch heute mit sich. "Ich bin nicht zufrieden damit."

Sein Kumpel Niko Burk setzte den feurigen Schriftzug "Respect" nebendran, Aileen To das Lohrer Wappen. Der Schriftzug "Würzburg" mit Festung kam erst später dazu.
Lude saute sich an diesem Tag ziemlich ein, erinnert er sich. Erst zum Schluss kamen seine Schablonen zum Einsatz, sprühte er sein Horrorwittchen als kleine Beigabe ganz links unten ins Eck, ganz in Schwarz.
Keine drei Tage später erschien das Foto in der Main-Post. Keine vier später wurde es in der Facebook-Gruppe "Ob Mopper oder Schnüdel ..." gepostet. Keine elf, da verbreitete es auch die Deutsche Presseagentur.

Kunst-Professor Ottmar Hörl würdigte Lude: "Chapeau, das ist eine intelligente Reaktion. Die gefällt mir. Der Graffiti-Künstler hat das Kunstwerk sehr gut interpretiert." Der Horrorwittchen-Siegeszug beginnt.
Für Lude waren die Reaktionen "ein bisschen überwältigend". Er steckte mitten im Abi-Stress, blockte Interview-Anfragen ab. Mit Matthias Mehling sprach er. Der Lohrer Weinwirt wollte T-Shirts mit dem Graffito bedrucken lassen - zunächst nur für einige spontan begeisterte Mitglieder der Facebook-Gruppe.
Einige wollten es am liebsten schon am 9. Dezember tragen bei der Runde, zu der die von Mehling initiierte "Deeskalationsgruppe" eingeladen hatte. 45 Lohrer diskutierten im Pfarrheim über Fragen wie "Was darf Kunst? Wer kann Kunst?" Was in der Runde allenfalls ansatzweise gelang, schaffte das Graffito im Handumdrehen: Der Lohrer Kunst-Streit war befriedet.

Eine ganz andere Dynamik stellte sich ein. Mehling nahm die Sache in die Hand: Lude und das Juze wurden am Ertrag aus dem T-Shirt-Verkauf beteiligt. Ab Januar 2015 verschickte der Gastronom T-Shirts in alle Welt.
Das Sortiment "Howilo" (Horrorwittchen Lohr) wuchs rasch an: Mehling und befreundete Geschäftspartner bieten Hoodies und Mützen an, Umhängetaschen, Unterhosen, Uhren und Tassen. Howilo-Aufkleber zieren Autos von Exil-Lohrern - ob in Berchtesgaden, Australien oder den USA. Das Graffito wurde zum Kult.

Im Februar posten Lude und Wittstadt in T-Shirts mit Howilo-Aufdruck vor dem Gipsmodell in Laudenbach.
Als vier Wochen später das Original-Graffito überpinselt wurde, wusch ein Unbekannter die Farbe ab und restaurierte das Graffito.
Lude: "Nur für diesen Ort geschaffen"
Die Original-Schablone gab Lude nie aus der Hand, auch nicht als Leihgabe. "Sonst würde das Graffito an Wert verlieren. Es ist nur für den einen Ort geschaffen."

Der Lohrer Hermann Hutzel ließ sich die Figuren in Metall fertigen und arrangierte sie an seinem Anwesen in der Grabenstraße als Zaun.
Mehling brachte eine ähnliche Inszenierung, grün beleuchtet, an seinem Weinhaus hinterm Alten Rathaus an - mit Ludes Einwilligung.

Der Verkaufsschlager lockte erneut Journalisten in die Stadt. Ein drittes Mal kam die Meute dann eineinhalb Jahre später, als Wittstadts Skulptur endlich in Bronze vor der neuen Stadthalle in Lohr aufgestellt wurde.

Da hatte der inzwischen 19-jährige Künstler aus Lohr bereits seit einem halben Jahr das Abitur in der Tasche. Fahrzeugdesign wollte er studieren, scheiterte aber an der Aufnahmeprüfung. So schrieb er sich ein für Industrie-Design an der Folkwang-Universität der Künste in Essen.
Mittlerweile ist der 22-Jährige im fünften Semester angelangt, hat vier kreative Wochen in China hinter und Praktika vor sich: Im Herbst geht's nach London oder Salzburg. Dass es mit dem Fahrzeugdesign nicht geklappt hat, grämt ihn nicht mehr. "Ich bin ganz froh, weil mich Möbeldesign sehr interessiert."
Heimlich nachts neu gesprüht
Indes hat ihn das Graffito nie gänzlich losgelassen. 2018, als es erneut übersprüht wurde, griff er selbst nochmal zur Sprühdose - "heimlich nachts". Er wollte keine Journalisten, keine Kamera dabei haben. Die Stadt bekundete ihre Wertschätzung auf andere Art, schützte das Grafitto mit einer Plastikplatte vor weiteren Anschlägen.

Auch in Essen begleitet es den Studenten aus Lohr. Wann immer er zu Prüfungen antritt, verrät er, ziehe er T-Shirts und Unterhosen mit dem Horrorwittchen-Graffito an. "Das hat bisher immer funktioniert."


