
Warum lächelt der Mann nicht? Er muss sich doch freuen, stolz sein. Jetzt, wo sein Schneewittchen per Kran auf seinen Platz vor der Lohrer Stadthalle schwebt. Wo 500 Besucher ungeduldig darauf warten, die Skulptur in wahrer Größe zu sehen. Doch Peter Wittstadt hockt mitten unter den Zuschauern – und verzieht keine Miene. Mit den Gedanken ist er in dem Moment ganz woanders.
Als nach 20 Minuten Aufbau die letzten schützenden Folien fallen, geht ein Raunen durch die Menge. Dann: höflicher Applaus der etwa 500 Anwesenden. So sieht es also aus, das viel diskutierte Schneewittchen, fast drei Meter groß, eine halbe Tonne schwer.
Wittstadt mit Wittchen, Wittstadt ohne Wittchen
Peter Wittstadt hat die Ehre, sich seinem Kunstwerk als erster zu nähern. Auf seinen Rollator gestützt, den er wegen längerer Krankheit mit sich führt, arbeitet er sich heran. Eigentlich, gesteht er später, habe er seine Skulptur nicht von Nahem, sondern aus ein paar Metern Entfernung sehen wollen. Wittstadt kennt die unmittelbare Wirkung seines Schneewittchens. Schließlich hat er es schon in Tschechien, wo es gegossen wurde, ausgiebig betrachtet.
Nun will er erkunden, ob es richtig steht und wie es zusammen mit Stadthalle und restlicher Umgebung wirkt. Allein: Er kommt nicht dazu. Schon stürzen Journalisten, Kameraleute, Fotografen und Besucher auf Wittstadt ein. Der Künstler beantwortet geduldig Fragen, nimmt Glückwünsche entgegen, blickt in die vielen Kameras. Wittstadt mit Wittchen, Wittstadt ohne Wittchen.
Mehr als eine Viertelstunde hält das an. Dann kämpft sich Bürgermeister Mario Paul ans Mikro. Er stellt die Bedeutung der Skulptur für Lohr treffend dar. Von heute aus betrachtet hätten die Jury, die Wittstadt den Kunstpreis verlieh, und die Politik „einen Volltreffer“ gelandet“. Freilich anders, als es irgendwer habe vermuten können.
Das Schneewittchen hat Lohr verzaubert...
Nach Pauls Worten hat das Wittstadt'sche Schneewittchen Lohr verzaubert – „nicht im lieblich-romantischen Sinne, eher aufrührerisch, subversiv“. Vielfältige Interpretationen der Märchenfigur prägten das Stadtbild. „Kein Mensch kann mehr Zweifel daran hegen, dass Lohr Schneewittchen-Stadt ist.“
Der Bürgermeister hebt auch einen jungen Menschen hervor, der der teils hitzigen Diskussion um die 103 000 Euro teure Skulptur eine „versöhnliche Wendung“ gab: Valentin Lude. Sein „Geistesblitz“, das Horrorwittchen, sei eine neue Identifikationsfigur für Lohr. Fanartikel wie Tassen, Uhren und T-Shirts mit dem Motiv fänden weit über die Grenzen der Stadt reißenden Absatz.
Und das Schöne: Das Horrorwittchen stifte Gemeinschaft unter den Lohrern, weise auf eine bestimmte Episode hin: eine Stadt, die einen Kunstpreis ausschreibt und eine Skulptur zum Sieger kürt, die kaum einer haben will, die viel zu teuer ist. Eine Stadt, über die gerade deshalb viele Medien berichten. Die Stadt, die eine Bronzeskulptur aufstelle, mit der ein Schüler ein mordlustiges Weib verbinde, das wehrlose Zwerge jage.
... und bewegt die Menschen
Dennoch: Für Paul kann es kein Horror- ohne das Schneewittchen geben. Deswegen sein großes Lob an Peter Wittstadt: „Ihr Schneewittchen, unser Schneewittchen, bewegt die Menschen, berührt die Menschen. Es ist in vielfältiger Hinsicht von Belang. Sie dürfen das als große Auszeichnung für sich und Ihr Schaffen werten.“
Wittstadts „Schüler“ Valentin Lude bedankt sich auch bei seinem Vorbild – mit einer knallbunten Unterhose mit Horrorwittchen-Logo aus dem Fanshop-Fundus.
Zuvor hat die Autorin Krystyna Kuhn dem Publikum geschildert, wie sie die „Figur, die Geschichte geschrieben hat“, sieht. Der obere Teil ähnele Bildern, wie Kinder sie zeichneten. Das beste Beispiel: die zu kurzen Arme. Den unteren Teil deutet Kuhn als alten, knorrigen Baumstumpf. Die Vorstellung eines Kleides verschwimmt; stattdessen sieht sie den Prinzen zu Pferde, den Glassarg, den Tisch der Zwerge. Die Autorin stellt die Frage, „ob die Diskussion über das Schneewittchen nicht hässlicher war, als die Skulptur es je sein könnte“. Den Platz an der Stadthalle findet Kuhn gut gewählt. Das zeige, dass Lohr eine Kunst- und Kulturstadt sei.
Nach den Reden scheint das Interesse der überregionalen Medien befriedigt. Noch findet Peter Wittstadt sich nicht allein mit seinem Schneewittchen. Er verrät dieser Redaktion, dass der Aufbau des Kunstwerks nicht das Emotionalste für ihn gewesen sei. „Meine ganze Emotion steckt in der Skulptur.“
„Ich werde nie die Macht haben, allen zu gefallen“
Auch die Reaktion des Publikums interessiert ihn in diesem Moment nicht sonderlich. Weiß er doch, dass viele sein Werk alles andere als schön empfinden. „Ich werde nie die Macht haben, allen zu gefallen.“ Aber Wittstadt ist überzeugt, „dass viele Menschen meine Figur als gut empfinden werden“. Dass es so großen Ärger um sie gab, empfindet der Künstler im Nachhinein als gut. Sonst wäre sie nicht so beachtet worden.
„Kunst bewahrheitet sich in der Form“, sagt Wittstadt noch. Irgendwann am Nachmittag wird er Zeit und Ruhe gefunden haben, seine Skulptur aus der Ferne zu betrachten. Und sicher wird Schneewittchen ihm ein Lächeln ins Gesicht zaubern.






