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LOHR
Das Horrorwittchen erobert Deutschland
Aufnahme: Florian Kienast mit dem Team vom Bayerischen Rundfunk im Gespräch mit Giorgia Viola-Richartz, Matthias Mehling, Roland Pleier und Krystyna Kuhn. Fast auf märchenhaft anmutende Weise sei die Stadt durch den unverhofften Marketing-Coup ins Glück gekommen, so das Resümee.
Foto: Birgit Wagner | Aufnahme: Florian Kienast mit dem Team vom Bayerischen Rundfunk im Gespräch mit Giorgia Viola-Richartz, Matthias Mehling, Roland Pleier und Krystyna Kuhn.
Von unserer Mitarbeiterin Birgit Wagner
 |  aktualisiert: 26.04.2023 23:32 Uhr

Zum wiederholten Mal kam ein Team des Bayerischen Rundfunks (BR) wegen des Horrorwittchen-Graffitos von Valentin Lude nach Lohr. Im Weinhaus Mehling sprachen die Mitglieder der Deeskalationsgruppe mit Florian Kienast über die aktuelle kulturelle Situation der Schneewittchen-Stadt. Die Gruppe hatte sich im Herbst 2014 anlässlich der hitzigen Debatten um die Sieger-Skulptur des Kunstpreises gegründet.

Auf Grund des großen Interesses an Shirts und anderen Artikeln mit dem gesprayten Motiv hat Matthias Mehling inzwischen den Online-Shop www.howilo.de eingerichtet. Vergangene Woche hatte die Süddeutsche Zeitung bereits über Lohr als „Horrorwittchen-Stadt“ berichtet, nachdem Matthias Mehling dem Lohrer Jugendzentrum eine Spende aus dem Erlös der verkauften Horrorwittchen-Shirts von 5000 Euro überreicht hatte.

Über den märchenhaften Erfolg und die Zukunft von Horrorwittchen sprachen Krystyna Kuhn, Giorgia Viola-Richartz, Roland Pleier und Matthias Mehling. Der Beitrag wird in der Sendung „quer“ mit Christoph Süß nach Mitteilung des BR am Donnerstag Abend im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt.

Nachdem das kleine Graffito mit dem Zwerge jagenden Schneewittchen der heftigen Diskussion eine positive Wendung gegeben habe, stelle sich ja nun die Frage, ob es für die „Deeskalationsgruppe“ oder auch „AG Kultur“ noch etwas zu tun gebe, erkundigte sich Florian Kienast vom BR.

„Für uns stand ja nicht nur der Konflikt um die Schneewittchen-Skulptur selbst im Raum, sondern ganz grundsätzlich die Frage nach dem Umgang mit Kunst und Kultur,“ erklärt Schriftstellerin Krystyna Kuhn. Und um sich darüber Gedanken zu machen, gebe es immer noch viel Bedarf. „Nach wie vor brauchen wir dringend eine offene und konstruktive Diskussion über diese Themen, gerade jetzt, wo Lohr auch in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder München wahrgenommen wird “.

Auch die Frage nach dem Aufstellungsort der Schneewittchen-Skulptur von Peter Wittstadt müsse vor diesem Hintergrund noch einmal überdacht werden. Einen zentraler gelegenen Punkt wie beispielsweise in der Lohrer Anlage fände Kuhn geeigneter als den Vorplatz der etwas abgelegenen Stadthalle. Die große überregionale Aufmerksamkeit ist ein enormer Gewinn für die Stadt. Vor der Skulptur gab es in Lohr wenig Greifbares zum Thema Schneewittchen – die kleinen Bronzeskulpturen vor der Marien-Apotheke, die Tafel beim Weinhaus Mehling und einige Ausstellungsstücke im Lohrer Schloss. Touristen fragten oft nach, wo denn etwas von dem Märchen zu sehen sei. Das hat sich jetzt geändert. Mit den Shirts, Pullis und Taschen ist die Gestalt überall präsent, Souvenirs können in verschiedenen Geschäften gekauft werden.

Neue Ideen blühen

Horrorwittchen-Artikel finden sich inzwischen in ganz Deutschland und neue Ideen blühen in Lohr täglich auf, stellt Giorgia Viola-Richartz fest. Viele Lohrer sähen in dem Motiv ein Symbol, mit dem sich die Stadt präsentieren kann. „Schneewittchen-Stadt zu sein, nehmen viele für sich in Anspruch, Horrorwittchen haben nur wir,“ merkt sie mit einem verschmitzten Lächeln an.

Für Kienast drängte sich damit die Frage auf, ob Horrorwittchen nicht ein gutes neues Wahrzeichen für Lohr wäre. „Das Motiv ist genial“, stellte Roland Pleier fest. „Als Aufkleber auf dem Auto habe es inzwischen einen ähnlichen Wiedererkennungseffekt wie der Umriss der Insel Sylt - das kennt man einfach.“ Die enorme Popularität von Horrorwittchen sei sowohl ein Erfolg des Schülers Valentin Lude als auch des umstrittenen Kunstwerkes selbst. „Es ist unglaublich, was diese Auseinandersetzung an Kreativität freigesetzt hat. Und es ist noch viel mehr kreatives Potenzial in der Stadt vorhanden.“

Kulturelle Leben neu ordnen

Im Moment finde eine Neuordnung des kulturellen Lebens in Lohr mit dem Bau der Stadthalle und dem Umbau der Halle in der Gärtnerstraße, aber auch durch neue Initiativen von Veranstaltern und Kulturschaffenden statt. Auch der Kulturbeirat erwache gerade aus seinem Dornröschenschlaf und suche ein neue Form für sich. Es wäre wünschenswert, dass möglichst viele Kulturbegeisterte die Arbeit des Beirates bereichern könnten, sagten Krystyna Kuhn und Giorgia Viola-Richartz, selbst Mitglieder des Kulturbeirates.

„Die Figur hat uns eine unglaubliche Popularität gebracht – das ganze hört sich fast an wie eine gut geplante Marketingstrategie. Aber so etwas kann man gar nicht planen, das ist einfach so passiert“, schmunzelte Matthias Mehling. Der nächste Schritt müsse sein, die neuen Veranstaltungsorte mit Hilfe der neu gewonnenen Bekanntheit der Stadt zu füllen. Projekte wie das Ballett „Schneewittchen-Breaking out“ mit dem Lohrer HipHop-Tänzer Dominik Blenk, derzeit auf dem Spielplan des Mainfranken-Theaters, wären nicht nur thematisch ideal für Lohr.

„Also könnte man fast sagen, die Schneewittchen-Skulptur sei ein Glücksfall für Lohr gewesen?“ stellte Florian Kienast als Frage in den Raum. „110 000 Euro kostet die Skulptur – ein Marketingkonzept mit vergleichbarer Wirkung würde sicherlich das Zehnfache kosten?“ Matthias Mehling musste lachen, „Ja, das war ein echtes Schnäppchen.“

Das Entscheidende ist, dass man nach der hitzigen Diskussion um die Wittstadt-Skulptur mit dem Erscheinen des Graffitos endlich lachen kann. „Humor entschärft die größten Konflikte“, meinte Roland Pleier. „Die Atmosphäre hat sich verändert, das Schwere hat sich gelöst“, erklärte Schriftstellerin Krystyna Kuhn.

Die Gesprächsteilnehmer stimmen darin überein, dass Horrorwittchen die Wende in die teils erbittert geführte Auseinandersetzung um Kunst und Kunstverständnis, Kompetenz und guten Geschmack gebracht hat. Eine Schlichterin also mit Dolch in der Hand? „Das Horrorwittchen war das bis dahin fehlende Mitglied der Deeskalationsgruppe,“ stellte die Runde schmunzelnd fest.

 
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