
Der Aufstieg der Nazis kam bekanntlich nicht aus heiterem Himmel. Auch in Main-Spessart gab es schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik deutschvölkische Umtriebe und vaterländische Wehrverbände. Antisemitismus war in diesen Kreisen eine feste Größe. Ein erster trauriger Höhepunkt war der "Deutsche Tag" im Oktober 1923 in Thüngen. Dort gab es bei einer Auseinandersetzung mit von der Presse "Hakenkreuzlern" genannten Demonstranten unter Führung des Barons Lutz von Thüngen einen Toten und mehrere Verletzte.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs begann in Bayern politisch eine unruhige Zeit. Im November 1918 wurde die Monarchie gestürzt und die Revolution ausgerufen, Bayern zum Freistaat erklärt. Am 7. April 1919 dann wurde die Bayerische Räterepublik ausgerufen, aber nach wenigen Wochen von einer Koalition aus Vertretern des Parlamentarismus, antidemokratischen Freikorps und Reichswehrtruppen blutig niedergeschlagen. Unter dem Eindruck der Radikalisierung der Revolution in Bayern hatte die SPD-geführte Staatsregierung am 17. Mai 1919 zur Gründung von Einwohnerwehren aufgerufen, um auf diese Weise die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sicherzustellen.
Einwohnerwehren radikalisierten sich
1920 gründete sich ein privat geführter Landesverband der Einwohnerwehren. Immer mehr ehemalige Freikorpskämpfer traten bei und trugen zu einer Radikalisierung bei. Der Verband sah eine seiner Hauptaufgaben darin, Waffenbestände der Reichswehr in geheime Verstecke zu schaffen. Kreisleiter für den Sinn- und Werngau war der Gemündener Rechtsanwalt und Stadtrat Gottfried Englert. Auf Druck der Alliierten beschloss der Verband 1921 seine Auflösung.

Allerdings entstand als geheime Nachfolgeorganisation die "Organisation Pittinger", die sich später zum christlich-völkisch orientierten Bund "Bayern und Reich" umformierte. Der Bund, der Juden von einer Mitgliedschaft ausschloss, entwickelte sich bis Mitte 1922 – mit Rückendeckung der Staatsregierung – zur stärksten paramilitärischen Vereinigung in Bayern. Ziel war die Wehrertüchtigung. Der Gemündener Rechtsanwalt Englert trat bald als örtlicher Führer des Bundes "Bayern und Reich" im Altlandkreis Gemünden in Erscheinung. In Karlstadt und Marktheidenfeld existierten ebenfalls Ortsgruppen von "Bayern und Reich".
Turnverein Thüngen nahm keine Juden auf
Im Frühjahr gründete auch Lutz Freiherr von Thüngen (1894–1940) eine Ortsgruppe von "Bayern und Reich". Der Freiherr wollte "Juden aus allen leitenden Stellen im öffentlichen Leben" vertreiben. Der Erfolg des Bunds in Thüngen, wo ein Fünftel der Einwohner jüdischen Glaubens waren, blieb, außer bei Beamten und Angestellten des Hauses von Thüngen, überschaubar. Aber er trug zur Spaltung der Bevölkerung bei, denn im Sommer 1923 wurde in Thüngen ein Turnverein gegründet, der, anders als der Fußballverein, keine Juden als Vereinsmitglieder aufnahm. Und im Herbst wurden die Synagoge und Häuser jüdischer Familien mit Hakenkreuzen beschmiert.
Die Stimmung des Krisenjahres 1923 mit seiner Hyperinflation war aufgeheizt. In dieser Atmosphäre veranstaltete die Ortsgruppe von "Bayern und Reich" am 21. Oktober 1923 in Thüngen einen der damals beliebten "Deutschen Tage". Bei derlei Tagen demonstrierten rechtsnationale Verbände bei Kundgebungen und Aufmärschen Gemeinsamkeit. So hatte etwa Mitte April 1923 ein solcher Tag in Marktbreit stattgefunden – einer der Teilnehmer war dabei Julius Streicher, der just in jenem Monat die antisemitische Wochenzeitschrift "Der Stürmer" gründete. Damals wurde der spätere Nazi-Gauleiter Otto Hellmuth zum Gauleiter des "Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes" gewählt, einer wichtigen Gruppe der völkischen Bewegung damals.
Völkische Demonstranten kamen mit Waffen
Lutz von Thüngen hatte auch für seine Kundgebung verschiedene rechtsnationale Verbände, etwa den "Bund Oberland" eingeladen, um den Thüngenern deren Stärke und Attraktivität zu demonstrieren. Etwa 60 bis 80 Personen aus Arnstein, Gemünden, Karlstadt, Schweinfurt und Würzburg waren der Einladung gefolgt. Einem Zeitungsartikel der "CentralVereins-Zeitung", einer jüdischen Wochenzeitung, ist zu entnehmen, dass Mitglieder auswärtiger Vereine mit Revolvern und Messern bewaffnet erschienen. "Der Israelit" schrieb, dass einige Angekommende schon am Bahnhof schwere Drohungen gegen die hiesige Einwohnerschaft ausstießen. "Sie wurden darob mit Pfuirufen empfangen. Die Stimmung war gereizt", hieß es.
Vor dem Schloss formierte sich der Zug. Außer dem Baron und einiger seiner Bediensteten schlossen sich diesem nur eine Handvoll weiterer Einwohner an. Unter dem Gejohle und Geschrei der Thüngener Burschen bewegte sich der Zug zum 1921 aufgestellten Kriegerdenkmal, wo eine Feier stattfinden sollte. Die hiesigen jungen Leute umstellten jedoch das Denkmal. "Hier werden keine politischen Reden gehalten, hier liegen unsere Toten!", haben sie laut der "CentralVereins-Zeitung" geschrien. Der Baron soll daraufhin kommandiert haben: "Platz räumen!" Und schon sei ein Stoßtrupp der Völkischen mit gesenkter Fahne, bewaffnet mit Dolchen und Revolvern, gegen die unbewaffneten Thüngener Burschen losgezogen. Thomas Pigendörfer, "ein unbeteiligter hiesiger Arbeiter", wie es hieß, habe einen tödlichen Stich am Hals erhalten.
Polizei verfolgte Angegriffene, nicht die Angreifer
Und dann passierte etwas äußerst Ungewöhnliches: Die herbeigerufene Würzburger Landespolizei kümmerte sich nicht etwa um den Täter, sondern nahm ein Dutzend junger Leute, wovon sieben jüdisch waren, fest. "Wie Schwerverbrecher wurden diese gefesselt, gleichsam zur Schau durch die Straßen des Städtchens Karlstadt geführt. Sieben Wochen schmachteten sie in Untersuchungshaft", berichtete "Der Israelit" später. Sie mussten sich als Rädelsführer vor dem Würzburger Volksgericht verantworten.
Dort fand vom 13. bis 15. März 1924 in der Sache der "Thüngener Unruhen" die Hauptverhandlung wegen Landfriedensbruch gegen 13 Angeschuldigte statt. 55 Zeugen waren geladen. Der Vorwurf in der Anklageschrift: "Die Juden in Thüngen haben beschlossen, den deutschen Tag mit Gewalt zu verhindern, und da sie glaubten, dazu zu schwach zu sein, haben sie sich mit dem Fußballklub verbunden." Angeblich hätten sie den Fußballklub bestochen. Dieser tendenziösen Verdächtigung lag ein Bericht des Arnsteiner Gendarmen Schwarz zugrunde, der viel Sympathie für die rechten Demonstranten hatte. Deren Verhalten war nach seiner Ansicht "einwandfrei" gewesen, während er den "Vaterlandslosen" Gewaltbereitschaft unterstellte.
Die Verhandlung ergab, dass die Anklage haltlos war. Die Angeklagten wurden teils freigesprochen und teils wegen Unfugs zu drei bis fünf Wochen Haft, bereits verbüßt durch die Untersuchung, verurteilt. Von einer Strafverfolgung des "Mörders" des Thüngener Arbeiters ist nichts bekannt.
Karlstadter Ortsgruppe des Bunds "Oberland"
Die Karlstadter Ortsgruppe des paramilitärischen, antisemitisch geprägten Bunds "Oberland" war auch in Thüngen mit von der Partie gewesen. Der mit Waffen ausgestattete Bund ging aus einem extrem deutschvölkischen Freikorps mit vielen kriegserfahrenen Soldaten hervor. In Karlstadt wurde sie von "Oberschlesienkämpfern" aufgezogen, schrieb der spätere NS-Karrierist Emil Popp 1933, der Leiter der Ortsgruppe und ab 1921 Gauleiter des Bundes Oberland in Mainfranken. Der Bund, der offenbar bei der "Königlich-privilegierten Schützengesellschaft Karlstadt am Main" im Schützenhaus in Mühlbach schießen übte, habe in Karlstadt hauptsächlich aus Gärtnern bestanden, so Popp.

Anders als "Bayern und Reich" beteiligte sich Oberland am 8./9. November 1923 am Hitlerputsch. Die Karlstadter Ortsgruppe hatte am Nachmittag des 8. November versiegelte Befehle erhalten, wonach sie noch am selben Tag bewaffnet zum Sitz des Regierungspräsidenten in Würzburg ziehen sollte. Zwar wurden Vorbereitungen getroffen, das Unternehmen fand aber nicht statt. Nach dem Putsch wurde "Oberland" wegen seiner Komplizenschaft mit Hitler und Ludendorff verboten. Die Gruppe wurde im Verborgenen weitergeführt, ab 1925 dann offiziell, litt aber unter Mitgliedermangel.

Am Hitlerputsch mag der Bund "Bayern und Reich" weitgehend unbeteiligt gewesen sein, dennoch forderte er noch am 10. November 1923 in einer Resolution, eine nationale Diktatur unter Beteiligung aller vaterländischen Verbände auszurufen. Nach dem Hitlerputsch wies die bayerische Staatsregierung am 1. Dezember 1923 an, alle vaterländischen Verbände zu entwaffnen. Der Bund "Bayern und Reich" löste am 31. Januar 1924 seine Wehrorganisation auf, bestand selbst aber noch ein paar Jahre weiter.
Viele deutschnationale Beteiligte in Thüngen landeten bei SA und NSDAP
Die bei der Gerichtsverhandlung rund um die "Thüngener Unruhen" befragten Zeugen aus dem Kreis der Wehrverbände landeten meist recht schnell bei der SA oder der NSDAP und machten teilweise Karriere im Dritten Reich, wie der Würzburger Joachim Braun festgestellt hat. Der ehemalige Oberland-Gauleiter Emil Popp (1897–1955) aus Karlstadt etwa gründete 1930 die NSDAP-Ortsgruppe Karlstadt, wurde Kreisleiter und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 Zweiter Bürgermeister in Karlstadt und Standartenführer des SS-Abschnitts IX Franken. Er machte Karriere unter den Nazis, wurde 1936 SS-Brigadeführer des SS-Abschnitts II in Sachsen und im Wahlkreis Frankfurt (Oder) in den Reichstag gewählt. Ab 1938 war er Regierungspräsident von Chemnitz, ab August 1944 von Köslin (Pommern) – und trat dabei ständig in SS-Uniform auf.
Der Gemündener Bund-Führer Gottfried Englert, der ebenfalls in Thüngen dabei war und zeitweise Vorstand des Fußballklubs Bavaria in Gemünden war, trat erst 1933 der NSDAP bei. Am 21. März 1933 hielt er anlässlich des "Tags von Potsdam", der Eröffnung des Reichstags, bei einer größeren Parteiveranstaltung im Gemündener Bahnhofshotel eine groß angelegte Ansprache, hat Joachim Braun recherchiert. Im Dritten Reich war er Justizrat.
In der Marktheidenfelder Ortsgruppe des Bunds "Bayern und Reich" waren unter anderem der spätere NSDAP-Kreisleiter Max Sorg aus Marktheidenfeld und der Michelriether Gastwirt und Landwirt Johann Adam Mohr aus Michelrieth (SA-Oberführer der SA-Gruppe Franken, Gaubauernführer, Reichstagsabgeordneter) aktiv.
Literatur: Hübner, Christoph: Bund "Bayern und Reich", 1921-1935, in: Hist. Lexikon Bayerns (online); Hübner, Christoph: Landesverband der Einwohnerwehren Bayerns, 1920/21, in: Hist. Lexikon Bayerns (online); Flade, Roland: "Es kann sein, daß wir eine Diktatur brauchen"; Töllner, Axel/Berger-Dittscheid, Cornelia: "Thüngen", in: "Mehr als Steine... Synagogen-Gedenkband Bayern", Teilband III, Unterfranken, Teil 1; Popp, Emil: "Gesellschaft und Politik in Karlstadt", in: "Fränkische Heimat", November 1933; Scherg, Leonhard: "Die politische Entwicklung 1919 - 1933", in: "Marktheidenfeld. Von den Anfängen bis zum Ende des 2. Weltkriegs"; "Emil Popp" (Wikipedia); Vissers, Maximilian: "Aufstieg und Kampfzeit des Nationalsozialismus im Amtsbezirk Marktheidenfeld (1918-1933)", in: "Wertheimer Jahrbuch 2015".
Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart
Bin selbst Thüngener 1965 geboren.
Über das Attentat an Herrn Pigendörfer wurde immer nur unter vorgehaltener Hand berichtet.
Warum auch immer.
Das da aus dem Hause Thüngen jemand involviert war wusste ich nicht.