Vor 100 Jahren wurde nicht nur in Würzburg. Aschaffenburg und Schweinfurt, sondern auch in Lohr die "Räterepublik" ausgerufen. Die "Diktatur des Proletariats" stand hier allerdings auf recht schwachen Füßen und endete unblutig bereits nach wenigen Tagen.
Der am 8. November 1918 in München von Kurt Eisner, Führer der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), ausgerufene "Freie Volksstaat Bayern", sollte sich eigentlich durch die ersten freien und gleichen Wahlen zum bayerischen Landtag konsolidieren. Nach blutigen Auseinandersetzungen endete der Wahlkampf am 12. Januar 1919 mit einer schweren Niederlage der USPD. Mit 2,5 Prozent der Stimmen hatte sie im Landtag ganze drei von 180 Sitzen. Die Bayerische Volkspartei erhielt 35, die Mehrheits-SPD 33, die Deutsche Demokratische Partei 14 und der Bauernbund neun Prozent.
Eisner wurde am 21. Februar 1919 auf dem Weg zum neu gewählten Landtag, wo er seinen Rücktritt erklären wollte, erschossen. Am 17. März wählt der Landtag den Pfälzer Volksschullehrer und Mehrheitssozialdemokraten Johannes Hoffmann zum Ministerpräsidenten und erließ ein neues "Vorläufiges Staatsgrundgesetz". Doch die radikale Linke versuchte mit Hilfe einer "Roten Armee", hauptsächlich bestehend aus meuternden Soldaten, die Räterepublik mit Waffengewalt durchzusetzen. Im Landtag hatten Maschinengewehre Stellung bezogen, um die gewählten Abgeordneten am Zusammentreten zu hindern. Der Landtag und die Regierung Hoffmann wichen nach Bamberg aus.
Einheitsfront aller sozialistischer Parteien
Am Sonntag, 6. April, so berichtete die Lohrer Zeitung, hatte im Saal des Hotel "Post" in Lohr eine Versammlung der USPD stattgefunden. Sie war gut besucht, auch von Bürgern, die dieser Partei nicht angehörten. "Ein auswärtiger Redner", heißt es in dem Bericht, "sprach über das Thema: Die Internationale, d. h. er kam auf alle möglichen Tagesfragen zu sprechen. Seine Ausführungen sollten den Boden bilden für die Annahme einer Resolution und gewisser Richtlinien der USP." Die wichtigsten Punkte waren: Herstellung einer Einheitsfront aller sozialistischen Parteien, Stellungnahme gegen die 'Preßhetze' und die Lostrennungsbestrebungen von Bayern und vom Reich. Bündnis mit der russischen und der ungarischen Räterepublik und die Diktatur des Proletariats sowie die Rückkehr der Gefangenen.".
Als merkwürdig empfand der Berichterstatter, dass über diese Punkte abgestimmt wurde, bevor man darüber diskutiert hatte. Die meisten Anwesenden seien nur erschienen, um sich zu informieren und beteiligten sich nicht an der Abstimmung. In der Diskussion meinte ein Vertreter der Mehrheits-SPD, man müsse erst abwarten, auf welcher Grundlage die geforderte linke Einheitsfront hergestellt werden solle. Die Mehrheitssozialisten, besonders in Bayern, seien gewiss bis jetzt sehr weit nach links entgegengekommen, "aber daß sie sich nun mit Haut und Haaren den Radikalsten der Linken verschreiben, das könne man nicht von ihnen verlangen und erwarten."
Revolutionäre Soldaten besetzten das Postamt
Am Montag, 7. April kurz nach Mitternacht wurde im Wittelsbacher Palais in München die Bayerische Räterepublik ausgerufen. Am selben Tag, kurz nach 7 Uhr, rückte in Lohr eine Abteilung revolutionärer Soldaten aus Würzburg unter Führung eines Sergeanten Scheuermann ein. Sie besetzten das Postamt; alle Geschäfte – ausgenommen die Lebensmittelläden – mussten im Lauf des Vormittags schließen. Am Nachmittag gegen 15.30 Uhr rief die USPD ihre Anhänger auf dem Marktplatz zusammen. Der Glasmacher Gregor Seufert eröffnete die "Volksversammlung", bei der allerdings das "Volk" nicht allzu zahlreich vertreten war.
Über die politische Lage sprach der Monteur August Rüfer: Ganz Bayern, mit Ausnahme von Nürnberg und Bamberg, habe das Rätesystem angenommen, behauptete er. Bolschewismus und Räteystem seien nicht so schlimm, wie es scheine und immer noch besser als die Ausbeutung durch die Entente (er meinte die Siegermächte Frankreich und England). Rüfer proklamierte die Räterepublik auch für Lohr. Die USPD wählte einen "Aktionsausschuß des Revolutionären Proletariats", dem als erster Vorsitzender Wilhelm Jost, als zweiter Vorsitzender August Rüfer und der "Stadtkommandant" Gregor Seufert angehörten. Damit sei, so verkündete Rüfer, auch in Lohr "Die Diktatur des Proletariats" aufgerichtet.
Widerspruch kam nur aus den Reihen des bisherigen Arbeiterrates. Ein Mitglied namens Hammer erhob Protest, vor allem gegen die Wahl des Aktionsausschusses. Hammer stellte fest, von einer Volksabstimmung könne hier keine Rede sein. Er forderte, den Bürgern müsse Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
Vor der Versammlung hatten die Roten auch die beiden Lohrer Zeitungsbetriebe geschlossen. Zwar konnte in Verhandlungen erreicht werden, dass beide Blätter wieder erscheinen durften. Das war ja auch im Sinne der Revolutionäre, die zur Weitergabe ihrer eigenen Verlautbarungen auf die Zeitungen angewiesen waren. Für den "Lohrer Anzeiger" (LA), dessen Redaktion im August 1918 Nikolaus Fey übernommen hatte, kam diese Genehmigung aber zu spät. Der LA erschien erst wieder am Dienstag, 9. April. Unter dem Kopf teilte Fey den Lesern mit, dass der revolutionäre Aktionsausschuss die Redaktionen besetzt und die Kontrolle übernommen habe. Sie seien daher gezwungen, sämtliche Kundgebungen des Aktionsausschusses zu veröffentlichen, andererseits jede Stellungnahme im Sinne der von ihnen vertretenen Welt- und Parteianschauungen zu unterlassen. Die Redaktionen beider Zeitungen lehnten daher bis auf Weiteres jede Verantwortung für den Inhalt ab.
Entweder wurde aber die "Lohrer Zeitung" (LZ) weniger scharf kontrolliert als der "Anzeiger" oder Josef Keller und sein Neffe Friedel Keller, die damals für die Redaktion verantwortlich zeichneten, riskierten mehr. Außerdem waren die Revolutionäre wohl mit der Zensur überfordert. Die LZ veröffentlichte zwar die Aufrufe der Revolutionäre, aber ebenso Verlautbarungen von deren Gegnern. So berichtete sie am 8. April, dass am Vorabend eine gemeinsame Mitgliederversammlung von SPD und USPD stattgefunden hatte, in der die Letztere versucht hatte, zu einer Einigung der beiden Parteien zu kommen. Das lehnten die Mehrheitssozialisten nach dem Geschehenen rundweg ab. In der gleichen Ausgabe erschien auch ein Erlass des Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, in dem dieser feststellte, seine Regierung bleibe die einzige Inhaberin der Gewalt in Bayern.
Die Redaktionen beider Zeitungen in Lohr versuchten ihre Leser über die Ereignisse auf Landesebene so gut zu informieren, wie das unter den gegebenen Umständen möglich war. Das war nicht einfach, hatte doch in München die "Rote Armee" die Macht übernommen und die Presse "sozialisiert": Die Nachrichten wurden zensiert und der "Revolutionäre Zentralrat" arbeitete auch mit gezielten Falschmeldungen wie dem angeblichen Rücktritt des Ministerpräsidenten Hoffmann. Den Redakteuren in Lohr war es kaum möglich, den Wahrheitsgehalt der sich gegenseitig widersprechenden Meldungen zu überprüfen.
Abwarten hieß für Bürgerschaft das Gebot der Stunde
Auf die Zensur der örtlich Verantwortlichen ist es wohl zurückzuführen, dass es keine Nachrichten über die Stärke der Truppe gibt, die die Revolutionäre in Lohr unterstützte. Umgekehrt berichteten die Zeitungen nichts über die Rolle, die in dieser kritischen Phase Bürgermeister Josef Wetzel, Stadtrat und die Verwaltung spielten. Sie wollten diese offenbar nicht zum Angriffsziel der Revolutionäre machen. Aus dem weiteren Ablauf des Geschehens lässt sich schließen, dass man im Rathaus und in weiten Teilen der Bürgerschaft jede Eskalation vermeiden wollte. Abwarten schien das Gebot der Stunde. Wie die Dinge lagen, würde die Entscheidung ohnehin nicht in Lohr fallen. Wie sich zeigte, war diese Einschätzung richtig.
Am Dienstag, 9. April veröffentlichte die LZ einen gemeinsamen Aufruf der Deutschen Demokratischen Partei, der Bayerischen Volkspartei, des Bundes der Landwirte, des Deutschen Beamtenbundes und des Vollzugsausschusses der mittelfränkischen Kreisbauernräte, der dazu aufforderte, sich der Räterepublik entgegenzustellen und die Regierung Hoffmann zu unterstützen. Die Leser erfuhren zudem, dass das "Freikorps Epp" der Regierung in Bamberg zu Hilfe komme.
Trotz Zensur erschien in derselben Ausgabe auch die Einladung der Mehrheitssozialisten zu einer öffentlichen Versammlung im Saal des Hotels "Post" mit dem Thema "Das Gebot der Stunde". Im Bericht über dieses Treffen hieß es am 10. April: "Kopf an Kopf, Schulter an Schulter " hätten die Besucher im "brechend vollen Saal" gestanden. Der Referent des Abends, ein gewisser Guckenberger, wohl von auswärts, erläutete fast zwei Stunden lang die Begriffe "Räterepublik" und "Rätesystem". Er habe sich dabei bemüht, beruhigend zu wirken und nicht "neue Glut ins Feuer" zu werfen. Einem Großteil der Anwesenden seien angesichts der Lage seine Worte allerdings nicht scharf genug gewesen. Für die anderen demokratischen Parteien sprachen Amtsanwalt Wiesner und Ingenieur Spöcker.
In der Nacht nach der Versammlung muss sich die Lage wohl zugespitzt haben Die Nachrichten überschlugen sich, sodass die Zeitungen gar nicht mehr alle überholten Meldungen aktualisieren konnten, sondern einfach neue an die alten anhängten. Direkt unter dem Kopf berichtete der "Lohrer Anzeiger": "Spartakisten-Aufstand niedergeschlagen! Würzburg, den 10. April, vormittags 9.40 Uhr. (Telegramm). In Würzburg Spartakisten-Aufstand niedergeschlagen, Ordnung wieder hergestellt. Ganz Würzburg steht ein für die gesetzmäßige Regierung Hoffmann. - Regierungs-Präsidium." Diese Meldung war offenbar noch in letzter Minute vor Redaktionsschluss eingetroffen.
Ein Leitartikel bereitete die Leser der "Lohrer Zeitung" auf die neue Situation in Lohr vor: Die Vernunft habe gesiegt, hieß es dort. Der erst vor kurzem gegründete Beamten- und Lehrerbund und die Vertreter der bürgerliche Parteien hatten mit dem revolutionären Ausschuss Vereinbarungen getroffen, um eine Eskalation der Lage zu vermeiden. Der revolutionäre Ausschuss verpflichtete sich, den Belagerungszustand nicht zu erklären. Außerdem sollte das Militär bis spätestens Freitagabend, 11. April, aus Lohr entfernt werden. Sollte das aus Verkehrsgründen (der Zugverkehr war eingestellt) nicht möglich sein, dann wollte der Aktionsausschuss die Soldaten entwaffnen. Im Gegenzug versprachen die Beamtenvertreter, nicht in dem Streik zu treten, sondern ihren Dienst "unter voller Wahrung ihrer politischen Überzeugung" weiter zu versehen. Praktisch bedeutete das die Übergabe der vollziehenden Gewalt in die Hände der regulären Behörden, auch wenn der "revolutionäre Ausschuss" vielleicht noch immer auf eine Wende in seinem Sinne hoffte.
Spartakisten-Aufstand in Würzburg niedergeschlagen
Am 11. April erfuhr man in der LZ Einzelheiten über die Niederschlagung des Spartakisten-Aufstandes in Würzburg. Den Räte-Minister Hagemann hatte man festgenommen, den Hauptaufwiegler Waibel, der sich im vierten Stock der Residenz in einem Kleiderschrank versteckt hatte, verhaftet. Es hatte Tote auf beiden Seiten und auch unter der unbeteiligten Bevölkerung Tote und Verletzte gegeben. Gegen 17 Uhr warf ein Flugzeug über Lohr Flugblätter ab in denen das Generalkommando des II. Bayrischen Armeekorps und die Regierung die revolutionären Ausschüsse in Schweinfurt, Aschaffenburg und Lohr zur Kapitulation aufforderte.
Darin heiß es: "Die vereinigten Arbeiter, Bürger und Soldaten des Standorts Würzburg haben dem Terror einer verblendeten Minderheit ein Ende gemacht. Arbeiter-, Bauern- und Bürgerräte des Landes schließen sich an. Die vereinigten Arbeiter-, Bürger- und Soldaten-Wehren fordern von den Revolutionären Ausschüssen: 1. sofortige Freilassung aller Geiseln, 2. sofortige und restlose Auslieferung aller Waffen und Munition, 3. sofortige Auslösung des revolutionären Ausschusses und Wiedereinsetzung der staatlichen und gemeindlichen Behörden. 4. Auslieferung der Rädelsführer. Die vereinigten Arbeiter-, Bürger.- und Soldaten-Wehren fordern Antwort innerhalb von zwölf Stunden, andernfalls mit Waffengewalt vorgegangen wird. "
Kaum seien die ersten Flugblätter in den Händen der Bürger und der "ordnungsgemäßen Organe" gewesen, "so stieg die Temperatur auf Fieberhitze und die Erregung gegen den selbstgewählten revolutionären Aktionsausschuß wuchs immer mehr", berichtet die LZ. Die Behörden seien nicht nur möglicher Selbstjustiz durch die Bevölkerung entgegengetreten, sondern hätten die Anführer der Lohrer Räterepublik sogar gegen Konsequenzen in Schutz genommen. Es wurde darauf verzichtet, die Rädelsführer an das Generalkommando auszuliefern.
Am Samstag, 12. April 1919 der veröffentlichte der "Lohrer Anzeiger" folgendes Inserat: "Erklärung! Wir nehmen den Ausruf der Räte-Republik vom 8. April zurück und anerkennen den Landtag sowie das Ministerium Hoffmann. Lohr, 12. April 1919. Der bisherige Revolutuonäre Ausschuß: Aug. Rüfer, Gregor Seufert, Willi Jost".
Festungshaft für die Rädelsführer des Lohrer Putsches
Ganz ungeschoren kamen die Revolutionäre aber nicht davon Am 28. Juni 1928 begann vor dem Landgericht Aschaffenburg die Verhandlung gegen die Rädelsführer des Lohrer Putsches. August Rüfer, Wilhelm Jost, Gregor Seufert und der Sergeant Scheuermann wurden zu je 18 Monaten Festungshaft verurteilt. Das Urteil gegen August Rüfer wurde erst am 5. Juli bekannt gegeben: ein Jahr und zehn Monate Festungshaft. In einer Anzeige hatte sich bereits am 28. Juni die USPD von Rüfer distanziert: "Die USPD ist gezwungen, den August Rüfer aus der Partei auszuschließen. Grund: Verrat der eigenen Partei, der Kommunisten und des Generalkommandos, da er als Lockspitzel Dienste tat. Die Vorstandschaft." Näher begründet wurde diese eigenartige Beschuldigung nicht.
In Lohr hatte sich die Lage um diese Zeit längst wieder normalisiert. Am 15. April beschloss der Stadtmagistrat, eine freiwillige Sicherheitswehr ins Leben zu rufen. Am 18. April konnte erstmals seit Beginn des Weltkrieges die Karfreitagsprozession wieder in der gewohnten Form durchgeführt werden. Weil die Männer zum Großteil an der Front standen, hatte man jahrelang auf das Mittragen vieler Prozessionsfiguren verzichten müssen.