Ungewöhnlich! So beschreibt Wolfgang Krönert jenes Gefühl, als er beim akribischen Kratzen mit dem Spachtel plötzlich einen Zehenknochen in der Hand hielt. Schicht um Schicht folgte das restliche Skelett: ein Kind aus dem achten oder neunten Jahrhundert nach Christus.
"Meine Frau meinte, bei der Grabung Seehausen werden Freiwillige gesucht, das wäre doch was für mich", sagt Krönert. Dass er kurz darauf mitten in einem großen, in Unterfranken wohl einzigartigen Reihengräberfeld stehen würde – das hätte der 65-Jährige nicht erwartet.
Krönert ist einer von rund zehn freiwilligen Grabungshelfern, die gemeinsam mit Forschenden des Archäologischen Spessartprojekts (ASP) dem Acker auf einer Anhöhe bei Zellingen-Duttenbrunn die Geheimnisse entlocken. Denn Bürgerinnen und Bürger sind hier ausdrücklich willkommen. Auch an diesem kalten, windigen Maimittag knien mehrere Freiwillige mit Werkzeug in der Grube und kratzen vorsichtig den Boden ab.
Auf einer 500 Quadratmeter großen Fläche soll in den kommenden Monaten erforscht werden, was die Bewohner der frühmittelalterlichen Siedlung hinterlassen haben. Wie haben die Menschen gelebt? Seit wann gab es das Dorf und warum wurde es verlassen? Seit Anfang Mai läuft die Ausgrabung in der Wüstung Seehausen, bereits in den ersten Tagen wurde Sensationelles zutage gefördert.
Was die Zähne über die Lebensgewohnheiten verraten
Zwei Skelette von Kleinkindern, dazu die dank des kalkreichen Bodens erstaunlich gut erhaltenen Überreste von zwei weiteren Kindern oder Jugendlichen und zwei Erwachsenen - vermutlich aus der Karolingerzeit, so genau will sich Projektleiter Harald Rosmanitz noch nicht festlegen. "Wir müssen noch die genauen Untersuchungen abwarten", sagt der Archäologe. "Aktuell ist noch alles offen."
Für die genaue Altersbestimmung sind Anthropologen zuständig. Anhand der Zähne werden die Wissenschaftler beispielsweise feststellen können, ob die Menschen zu Lebzeiten harte Winter durchmachen mussten oder an Krankheiten litten. Eines kann Rosmanitz schon jetzt an den abgeriebenen Zähnen erkennen: "Die Menschen haben vor allem Getreide gegessen."
Die Funde werden genau kartiert und gezeichnet. "Wir erhalten hier einen Ausschnitt aus einer Population, der sich sonst nirgends in dieser Form in Unterfranken zeigt", sagt der Archäologe. Anderswo wären alte Siedlungen überbaut worden - Seehausen aber wurde aufgegeben und bietet dadurch einmalige Einblicke in die Zeit vor rund 1200 Jahren. "Das kann man schon nicht mehr toppen", sagt Rosmanitz.
Matthias Merkl vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (BlfD), das die Grabung mitfinanziert, schätzt aufgrund der Vielzahl an Überresten, dass hier einst mehrere 100 Menschen lebten. Die Scherbenfunde deuteten auf die Karolingerzeit hin.
Die Menge der Gräber ist bisher wohl einzigartig in Unterfranken
Drei vollständige Skelette liegen derzeit noch offen in der Grube, in Ost-West-Richtung ausgerichtet. Und an den Rändern des Grabungsfelds spitzen schon weitere Knochen aus der Erde. Dass keine Grabbeigaben gefunden wurden, deutet dem Projektleiter zufolge auf eine christliche Bestattung. Zwar gibt es in der Region mehrere bedeutende karolingische Siedlungen wie etwa Karlburg oder Neustadt. Und in Unterfranken wurden auch schon einige menschliche Überreste aus dieser Zeit gefunden. Jedoch nicht in einem Reihengräberfeld dieser Größe, sagt Rosmanitz.
Als Wüstungen werden aufgegebene Siedlungen bezeichnet, an die nur noch Flurnamen oder mündliche Überlieferungen erinnern. Die Quellenlage zu Seehausen ist dünn, der Name wird erstmals in Urkunden von 1468 genannt. Die Siedlung ist damals schon lange Geschichte.
Die Duttenbrunner waren sehr überrascht von den Funden
Die Archäologische Arbeitsgruppe aus Karlstadt um Doris Dörringer habe hier über Jahrzehnte ehrenamtliche Feldbegehungen gemacht, sagt Rosmanitz. "Daher wussten wir schon, dass es eine Siedlung gegeben hat und Gräber, weil immer wieder Scherben und Knochen herausgepflügt wurden." Luftbilder und geophysikalische Untersuchungen brachten dann weitere Nachweise.
Bei den Duttenbrunnern wird das kleine angrenzende Wäldchen "Seehausen" genannt. "Im Dorf war zwar schon bekannt, dass hier ab und zu mal Scherben gefunden wurden. Ein großes Thema war das aber nie", erinnert sich Wolfgang Krönert. Umso überraschter sei man im Ort jetzt über die Skelettfunde.
Angelegt worden war die Siedlung einst auf einer Lössdüne aus der Eiszeit, die in den vergangenen Jahrhunderten durch Erosion schon um mehrere Meter abgetragen wurde. Und jahrhundertelang wurde die Fläche landwirtschaftlich bearbeitet und immer wieder umgepflügt. Dass überhaupt so viele vollständige Skelette gefunden wurden, gleicht einem Wunder. Die Überreste, ursprünglich wohl in rund 40 Zentimetern Tiefe vergraben, lagen mittlerweile knapp unter der Oberfläche, sagt der Archäologe: "In zwei bis drei Jahren wären sie zerstört worden."
Was passiert mit den Funden aus Seehausen?
Teilweise wurden die Skelette bereits beschädigt, auch deshalb wurde die Fläche für die Grabung ausgewählt. Für die Zukunft müsse man überlegen, wie mit dem Bodendenkmal umgegangen werden soll, so Rosmanitz. Was mit den Funden einmal geschehen wird, ist noch nicht klar. Rechtlich gesehen gehören sie zu gleichen Teilen dem Grundstückseigentümer und der Gemeinde Zellingen. "Skelette werden in Bayern in der Regel als wichtige Quelle in die archäologische Staatssammlung in München gebracht", sagt Matthias Merkl vom Landesdenkmalamt.
Und wie lebten die Bewohner Seehausens einst wohl? "Wir haben zwar als Archäologen keine Zeitmaschine, aber meines Erachtens können wir uns die Landschaft von damals ähnlich wie heute vorstellen", sagt Rosmanitz "mit aller Vorsicht". Seine Vermutung: "Mit einem fruchtbaren Acker, und es muss Wasser gegeben haben." Die Menschen seien bereits vor 1200 Jahren extrem gut strukturiert gewesen und hätten vor allem von der Landwirtschaft gelebt. Und Würzburg war bereits Bischofsstadt.
Einmal selbst Ausgräber sein – in Duttenbrunn ist das möglich
Schubkarren fahren, Scherben waschen, Funde säubern: "Jeder, der möchte, kann auf die Grabung kommen und mal mittun", sagt Rosmanitz. Auch Kinder sind in Begleitung erlaubt. Die langjährigen Ehrenamtlichen des Archäologischen Spessartprojekts zeigen dann etwa, wie man eine Schaufel richtig hält oder ein Skelett freilegt.
Normalerweise würden professionelle Unternehmen mit den Grabungen beauftragt, sagt der Archäologe. In Duttenbrunn kann die interessierte Öffentlichkeit die Forschung ganz nah begleiten. Auch wichtig: "Die Ehrenamtlichen werden bei uns kostenlos mit Essen versorgt", sagt der Projektleiter schmunzelnd. Das Interesse aus der Bevölkerung sei von Tag eins an groß. "Die Leute bringen uns Essen vorbei, sie sind unheimlich interessiert und sehen das als ihre Vorfahren an."
Das spielt auch bei der Absicherung der Grabung eine Rolle: "Wir sind dabei auf die Bevölkerung angewiesen. Und die hilft da wirklich tatkräftig mit, dass keine ungebetenen Gäste kommen und das Gräberfeld zerstören." Im Juli machen die Forschenden eine kurze Sommerpause, dann geht es in die zweite Grabungsphase.
Am Heimat-Erlebnistag des Bezirks Unterfranken an diesem Sonntag, 21. Mai, finden vor Ort für alle Interessierten 45-minütige Führungen zur Ausgrabung statt. Start um 14 Uhr, 14.45 und 15.30 Uhr. Infos unter www.heimat.bayern/heimaterlebnistag
Man könnte sie auch wieder bestatten weil erstens waren sie Christen und zweitens keine Urmenschen welche die Wissenschaft irgendwie voran brächten.