
Plötzliche und heftige Ohrenschmerzen: Das könnte auf eine Mittelohrentzündung hinweisen. Und die sollte man schnell erkennen und von einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) behandeln lassen. Doch was ist, wenn man kurzfristig keinen entsprechenden Arzt findet?
So erging es Anna Schmitt (Namen von der Redaktion geändert). Die 19-Jährige aus Marktheidenfeld möchte nicht mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Bei ihr traten vor kurzem am Abend eines Werktags überraschend starke Ohrenschmerzen auf. "Sie hat geschrien, so weh tat es ihr", beschreibt Mutter Sabine Schmitt die Situation.
Anruf beim ärztlichen Bereitschaftsdienst: "unnötig komplizierte Auswahlmöglichkeiten"
Sie ist es, die gegen 21 Uhr die Nummer 116 117 wählt, den Patientendienst des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Ein Notruf kam nicht in Frage. Anna Schmitt war nicht lebensbedrohlich erkrankt, aber die Arztpraxen hatten geschlossen. "Wir konnten nicht bis zum nächsten Morgen warten, weil die Schmerzen sehr heftig waren und mit normalen Schmerzmitteln nicht zu lindern gewesen sind", so die Mutter.
Sie hatte nicht den Eindruck beim ärztlichen Bereitschaftsdienst anzurufen, sondern wegen der permanenten Ansagen, "drücken Sie die 1", "bleiben Sie in der Leitung", "geben Sie Ihre Postleitzahl an", eher bei einem großen Telefonkonzern. "Es werden einem viele unnötig komplizierte Auswahlmöglichkeiten geboten. Und es dauert zu lange, bis man endlich jemanden in der Leitung hat, der einem Auskunft gibt", so die Mutter. Sie glaube, dass ältere Menschen gar nicht in der Lage sind, die richtige Stelle zu erreichen.

Telefonische Beratung durch einen Arzt oder Verweis an Klinikum Main-Spessart?
Sie sagt, dass sie die folgende Auskunft von der Patientenhotline bekommen habe: "Es gibt keine HNO-Bereitschaftspraxis in Marktheidenfeld und Umgebung." Michael Stahn, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), schildert den Vorfall etwas anders: "Die Patientin hat vollumfängliche Hilfe bekommen in Form einer telefonischen Beratung durch einen Arzt, innerhalb von nicht einmal fünf Minuten." Was in dem Telefonat besprochen wurde, unterliege der Vertraulichkeit des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
Des Weiteren weist Stahn darauf hin, dass es sehr wohl für den Landkreis Main-Spessart einen HNO-Arzt im Bereitschaftsdienst (werktags von 18 bis 8 Uhr) gebe: "Der Facharztdienst HNO, der für die Patientin infrage kommt, kann sowohl im Bereich Würzburg-Schweinfurt als auch im Bereich Aschaffenburg seine Praxis haben."
Schmitt sagt, sie habe von der Patientenhotline gesagt bekommen: "Fahren Sie in die nächstgelegene Klinik." Von Marktheidenfeld aus ist die nächstgelegene Klinik in Lohr. Als sie ankamen, war es 0.30 Uhr. "Wir wurden an der Notaufnahme freundlich von einer Schwester empfangen mit den Worten: Kommen Sie nach Absprache mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst?", erinnert sich die Mutter.
Im Klinikum Main-Spessart werden keine Patienten abgewiesen
Sie sagte, sie hätten niemanden in der HNO-Abteilung, sie müsse in eine andere Klinik, zum Beispiel die Uniklinik Würzburg, fahren. Franziska Schön vom Klinikum Main-Spessart konkretisiert auf Anfrage: "Wir weisen keine Patienten ab, aber weisen beim Kontakt bereits darauf hin, falls das Leitsymptom einer Fachrichtung zuzuordnen ist, die nicht am Klinikum Main-Spessart ansässig ist."
Sabine Schmitt kritisiert: "Beim ärztlichen Bereitschaftsdienst müssen solche Informationen vorhanden sein und weitergegeben werden." Sie findet, sie ist 40 Kilometer in der Nacht umsonst gefahren.

Notruf nur im Notfall wählen
Hätte sie besser den Notruf wählen sollen? Schmitt sagt: Wenn jeder in nicht bedrohlichen Situationen den Notruf wählen würde, wäre kein Notarzt verfügbar, wenn sich ein richtiger Notfall ereignet, zum Beispiel ein Herzinfarkt. "Das darf nicht sein!" Auch die Sprecherin des Klinikums Main-Spessart sagt: "Es gilt: Notruf nur im Notfall."
Notfälle würden im Klinikum Main-Spessart grundsätzlich behandelt werden, so Schön. "Bei speziellen Notfällen können wir nur die ärztliche Erstversorgung übernehmen." Sei bei Notfällen kein Facharzt der entsprechenden Fachrichtung vor Ort, werden die Patientinnen und Patienten anschließend an eine weiterbehandelnde Klinik verlegt.
Ärzte können Patienten aus triftigen Gründen abweisen, außer bei akuter Bedürftigkeit
Was viele nicht wissen: In Deutschland gibt es keine grundsätzliche ärztliche Behandlungspflicht – es sei denn, es handelt sich um eine akute Bedürftigkeit. Ein triftiger Grund für die Ablehnung von Patienten ist es, wenn ein Arzt für die Beschwerden nicht speziell ausgebildet ist. Fällt die Behandlung nicht in sein Fachgebiet, darf er den Patienten an eine andere Praxis verweisen.
Der Marktheidenfelder Ömer Özbay, der Schmitt dazu ermuntert hat, die Ereignisse dieser Redaktion zu schildern, kann kaum glauben, was die beiden Frauen erlebten. Doch leider sei dies nur ein Beispiel von vielen, die er im privaten Umfeld zu hören bekomme oder selbst erlebt habe.
"Unsere Politik setzt sich zu wenig für das Gesundheitssystem ein", sagt er. Stattdessen würde viel Geld für andere – unter Umständen weniger wichtige Projekte, zum Beispiel im Straßenbau, – ausgegeben. Dabei sei Marktheidenfeld der wirtschaftsstärkste Standort im Landkreis. "Hier leben viele der Mitarbeiter der Unternehmen und es werden immer mehr Menschen", so Özbay.
Im Zweifel direkt zur Uniklinik nach Würzburg fahren
"Marktheidenfeld ist bei der ärztlichen Versorgung sehr schlecht aufgestellt – sowohl bei den Haus- als auch bei den Fachärzten", so Sabine Schmitt. Es gebe weder einen HNO-Arzt, noch einen Orthopäden noch eine volle Augenarzt-Stelle. "Leider nehmen viele Menschen diese unbefriedigende Situation einfach hin, ohne sich zu wehren", so Schmitt.
Wäre sie wieder in einer ähnlichen Situation, würde Sabine Schmitt direkt nach Würzburg in die Uniklinik fahren. Doch älteren oder alleinstehenden Menschen sei diese Strecke nicht zuzumuten. In der betreffenden Situation brachte ein Anruf in der dortigen Notaufnahme Familie Schmitt dennoch nicht weiter.
Auch bei HNO-Praxis in Lohr warteten viele Notfälle im Wartezimmer
Sie wurden nicht abgewiesen, aber sie bekamen gesagt, dass sie bis zu vier Stunden warten müssen, bis ein Arzt Zeit hätte, sich das Ohr von Anna Schmitt anzusehen. Resigniert fuhren sie unverrichteter Dinge nach Hause. Ihrer Tochter gab sie Ibuprofen, an Schlaf war nicht zu denken. "Ich war froh, dass mir das nicht mit einem Kleinkind passiert ist", so Sabine Schmitt. Sie hätte nicht gewusst, welche Dosierung an Medikamenten sie hätte geben können.
Am Morgen flossen Eiter und Blut aus dem Ohr. Vermutlich war das Trommelfell gerissen. Sofort nachdem die HNO-Praxis in Lohr öffnete, rief Sabine Schmitt an, um ihre Tochter anzumelden. Wieder eine Absage: Es säßen bereits zwölf Notfälle im Wartezimmer. "Nur wenn unser Hausarzt persönlich anrufen würde, hätte sie eine dort Chance auf Behandlung gehabt", bekam die Mutter zu hören. Letztlich schickte der Hausarzt, den Anna Schmitt aufsuchte, sie zum HNO-Arzt nach Wertheim, wo sie sofort behandelt wurde.