Das Entsetzen einer ganzen Region brachte der Lohrer Pfarrer Sven Johannsen treffend auf den Punkt: "Das Unvorstellbare wird mitten unter uns Wirklichkeit." Sieben Monate später hallen die Worte des Pfarrers aus der Gedenkfeier für den erschossenen 14-jährigen Schüler nach - bis nach Würzburg, ins Strafjustizzentrum. Ab diesem Freitag, 3. Mai, ist dort ein jetzt 15 Jahre alter Jugendlicher auf der Anklagebank - und soll das Unvorstellbare erklären.
Wird der Junge die Frage beantworten, ob und warum er seinen Mitschüler am 8. September 2023 zu dem Platz neben dem Lohrer Schulzentrum Nägelsee lockte? Und warum er dann, wie Ermittler und Rechtsmediziner annehmen, hinter ihn trat und die großkalibrige Pistole auf seinen Hinterkopf richtete? "Er hat die Tat nur begangen, um zu töten", sagt Tobias Kostuch, Sprecher der Würzburger Staatsanwaltschaft.
Netflix-Serie und Serienmörder Jeffrey Dahmer als zweifelhaftes Vorbild?
Es soll nicht um Drogengeschäfte oder Schulden gegangen sein, wie in Lohr zunächst von Freunden der beiden Jugendlichen kolportiert worden war. Die Anklage hat nur blanke Mordlust als Motiv – wobei sich der angeklagte Jugendliche angeblich einen US-amerikanischen Serienmörder zum Vorbild genommen haben soll: Jeffrey Dahmer, der zwischen 1978 und 1991 eine der grausamsten Mordserien der USA verübte und über den es eine Netflix-Serie gibt.
Personen, die ihn sahen, waren offenbar erstaunt, wie stark der Schüler sich optisch der Hauptfigur aus der Netflix-Serie "Dahmer - Monster" angeglichen hatte. Auch sein Spitzname soll an den Serienmörder erinnert haben.
Die Serie ist erst ab 18 Jahren freigegeben – und schon für Erwachsene harte Kost: Es geht darin um die Zerstückelung von Opfern, Leichenschändung und Kannibalismus. Ein psychiatrischer Gutachter wird wohl im Auftrag des Gerichts ergründen, was dies mit dem Heranwachsenden in Lohr gemacht haben und welchen Einfluss dies auf die Tat gehabt haben könnte.
Offene Frage der Ermittler: Wie kam der Jugendliche an die Pistole?
Der Beschuldigte schweigt bisher, hat aber kurz vor dem Prozess seine Verteidiger gewechselt. Nun vertritt ein Trio: der Münchner Staranwalt Alexander Stevens, sein Kollege Johannes Makepeace und der Würzburger Verteidiger Roj Khalaf. Auch Norman Jacob, Anwalt der Familie des Opfers, äußerte sich bislang nicht zu der Anklage.
Der Jugendliche soll gewusst haben, wo der inzwischen verstorbene Besitzer der Waffe - der frühere Partner seiner Oma - den Schlüssel zu seinem Waffenschrank versteckt hatte. Der damals 14-Jährige selbst hatte der Polizei nach der Tat gezeigt, wo er in seiner Wohnung die Waffe versteckt hatte. Fanden die Ermittler Schmauchspuren an seinen Händen? Sie würden belegen, dass er geschossen hat.
Offenbar waren die beiden 14-Jährigen an dem Nachmittag allein, als an der Grünanlage neben der Schule der Schuss fiel. Deshalb weiß nur der Angeklagte, was tatsächlich passiert ist. Er hatte danach einen Mitschüler angerufen, der die Polizei alarmierte.
Feindseligkeit gegenüber den Familien von Tatverdächtigem und Opfer
Der Tod des Schülers erschütterte Lohr zutiefst. Der Familie des Tatverdächtigen schlug massive Feindlichkeit entgegen. Die Polizei musste zu ihrer Sicherheit Schutzmaßnahmen ergreifen.
Auch die Familie des Opfers, die eigens ihre Heimat in Italien verlassen hatte, weil ihre Kinder in Unterfranken friedlich aufwachsen sollten, erhielt nicht nur Zuspruch und Mitgefühl von Nachbarn und Freunden. Sie sah sich auch feindseligen Sprüchen ausgesetzt.
Aufwändiges Verfahren: nicht öffentlich und mit 17 Verhandlungstagen
Die große Jugendkammer des Würzburger Landgerichts verhandelt wegen des jugendlichen Alters des Angeklagten durchgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Bis zu einem möglichen Urteil am 9. August sind 17 Verhandlungstage terminiert.
Für Jugendliche beträgt bei Mord das Höchstmaß der Jugendstrafe zehn Jahre. Dem Gericht in Würzburg zufolge ist bei einer Verurteilung aber Sicherungsverwahrung unter engen Voraussetzungen möglich.