Es ist dieses eine Bild, das ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. "Das wird mir sehr lange und vielleicht auch dauerhaft nachhängen", sagt Mario Paul. Der Bürgermeister von Lohr sitzt in seinem Büro im Neuen Rathaus. Seit einer Woche ist in "seiner" Stadt nichts mehr, wie es vorher war.
Am 8. September ist ein 14-Jähriger am Lohrer Schulzentrum mit einem Kopfschuss getötet worden. Der mutmaßliche Täter ist ein gleichaltriger Junge. Das Bild, das Paul im Kopf hat, hatte jemand inmitten eines Herzes aus Kerzen platziert, das Familie und Freunde nahe des Tatorts aufgestellt hatten.
"Das ist ein Foto, das ihn zeigt, im Arm, mit seinem jüngsten Bruder", sagt er. "Für mich, als vierfacher Familienvater, die Vorstellung, dass es zu dieser Begegnung, dieser Herzlichkeit in dieser Familie nie wieder kommen wird, das ..." Seine Stimme stockt, er blickt zur Seite, seine Augen füllen sich mit Tränen. "Das ist nach wie vor sehr bedrückend, schlimm und einfach nur tieftraurig."
Die Bilder der schrecklichen Tat sind immer präsent
Zugleich sei er als Bürgermeister in vielerlei Hinsicht gefragt und müsse auch eine professionelle Haltung einnehmen. Wie er diesen Spagat in den vergangenen Tage schafft? "Mir hat's echt geholfen, mit sehr viel Herz da zu sein für die Stadt und vielleicht auch ein kleines Stückchen für die Familie."
Neben Krisenintervention und dem Aufbau mobiler Beratungsteams gehe für ihn auch der Alltag mit Ehrungen und anderen Terminen weiter. Die Bilder der schrecklichen Tat, so Paul, habe man dabei aber immer im Hinterkopf.
Das geht nicht nur dem Bürgermeister von Lohr so. Viele junge Menschen kannten den Toten. Im Außenbereich eines Cafés, direkt an der Hauptstraße, sitzt eine junge Lohrerin mit ihrer Mutter und isst ein Eis. Sie wirkt erschöpft und möchte dennoch erzählen. "Der große Bruder von ihm war ein guter Bekannter", sagt sie. "Man kann's halt kaum realisieren, dass das passiert ist."
Ihr Cousin habe am Telefon von einem Freund des mutmaßlichen Schützen von der Tat erfahren. "Der konnte das gar nicht glauben, also der wollte dem kein Wort glauben, weil das einfach so surreal ist. Niemand erschießt einfach jemand."
Sie sei gestern noch einmal an der Schule gewesen, die sie selbst besucht hatte. "Die ganzen Freunde von ihm sind da jeden Tag drei bis vier Stunden und trauern die ganze Zeit." Noch immer erinnern Kerzen und Blumen in der Nähe des Tatorts an den 14-Jährigen.
"Da steht eine mit 'nem Feuerzeug, zündet jede Kerze an, die ausgegangen ist und die anderen kratzen dann das Wachs vom Boden und schmeißen die leeren Kerzen weg", erzählt die junge Lohrerin. Der Mülleimer, der danebensteht, sei gestern wieder voll mit Kerzen gewesen.
Ob den Jugendlichen dieses Ritual hilft? Sie vermute es. Ob sich nach einer Woche in ihrem Empfinden schon etwas verändert habe? "Nein", sagt sie und lächelt kraftlos, "nach einer Woche ist noch nichts anders." Alltag - daran kann die junge Frau nicht denken.
Der gewaltsame Tod ist durchweg Gesprächsthema
Derweil flanieren zahlreiche Touristen und Touristinnen über das Kopfsteinpflaster der Lohrer Hauptstraße. Eine Miltenbergerin mittleren Alters lässt sich mit einer Zwergenstatue fotografieren, ein Schaufensteraushang kündigt für Sonntag das "Schneewittchenfest" im Stadtpark an.
Ein Stück weiter, an der Kreuzung zur Kirchenburg, befindet sich ein Zeitungs- und Souvenirladen. Verkäuferin Liane Hartmann etikettiert gerade Spirituosenflaschen. Die Tragödie hätten ihre Kundinnen und Kunden als extrem bedrückend wahrgenommen, sagt sie. "Man hat gemerkt, es lastet auf den Leuten und das war schon durchweg Gesprächsthema." Die lokalen Zeitungen seien dann auch regelmäßig ausverkauft gewesen. "Die Leute wollten einfach nachschauen, was sich Neues getan hat."
Auch für sie sei die Tat sehr schlimm gewesen, sagt sie: "Ich bin ja Mutter. Wenn ich jetzt betroffen wäre und ich hätte einen Sohn großgezogen, der mit 14 jemanden abballert. Das kann man sich gar nicht vorstellen."
Eine Frage, die die Lohrer beschäftigt: Wie konnte ein Kind an eine solche Waffe kommen?
Mütter und Väter - auch sie fühlen nach der Tat besonders mit den Beteiligten mit. Am Anlagespielplatz, auf dem zur Mittagszeit gerade nur zwei Kinder toben, sitzen Katharina und Marco Beuerlein im Schatten der prächtigen Feldulme auf einer Bank. Die 37-Jährige sagt, sie mache sich als Mutter nun Sorgen um ihre Kinder. Keine Ruhe lasse ihr vor allem die Frage, wie der Jugendliche so frei an eine Waffe gelangen konnte.
Ob sich eine solch brutale Tat in Lohr wiederholen könnte? Marco Beuerlein hofft, dass es sich um einen Einzelfall gehandelt hat. "Ich denke nicht, dass das jetzt alle ein, zwei Wochen passieren wird."
Angst und Unsicherheit spürt man immer wieder in den Gesprächen. Auch Pfarrer Sven Johannsen hat diese Sorgen in der vergangenen Woche oft mitbekommen. Als die Tat passierte, sei er eine erste Anlaufstelle für manche Lohrerinnen und Lohrer gewesen. "Das war eine völlige Schocksituation, eine Unruhe, da kamen viele Anrufe."
Ein Jugendlicher fragte den Pfarrer, warum Gott so etwas zulasse
Ein Jugendlicher habe ihm die Frage gestellt, warum Gott so etwas zulasse. Auch er habe sich im Angesicht des Unerklärlichen erst einmal orientieren müssen.
Vor den Menschen zu stehen, für sie zu sprechen, zu deuten und bei aller Betroffenheit und Sprachlosigkeit auch schon mal ein symbolisches Fenster aufzumachen, mit dem man in die Zukunft blicken könne, das habe er dann als seine Aufgabe gesehen.
"Ich bilde mir ein, man spürt es in der Stadt, dass man trotz aller Ratlosigkeit und Betroffenheit, jetzt wieder mehr in sein normales Leben zurückkehren kann", sagt der Kleriker.
Eine hoffnungsvolle Ahnung, die bei den meisten Lohrerinnen und Lohrern, die an diesem Tag bereit waren, sich zu öffnen, eine Woche nach der Tragödie noch nicht zuzutreffen scheint. Sei es die 62-Jährige, die anstatt ihres abendlichen Spaziergangs vom Stadtteil Sackenbach in die Altstadt nun lieber das Auto nimmt, die Mutter, die von Alpträumen ihrer Kinder berichtet oder die allgegenwärtigen Frage nach dem "Warum?". Sie wird die Schneewittchenstadt noch einige Zeit beschäftigen.