
Frauen und Mädchen mit Behinderung werden zwei- bis dreimal häufiger Opfer sexualisierter Gewalt, als der Bevölkerungsschnitt, zeigen Studien. In der SOS Dorfgemeinschaft Hohenroth (Lkr. Main-Spessart) arbeiten Michelle Konrad und Christiane Knorr daran, dass es so weit nicht kommt: Die beiden Bewohnerinnen sind seit 2023 die ersten Frauenbeauftragten in der Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung. "Wir wollen Frauen stark machen", erklärt Konrad (23) ihre Motivation. "Und wir wollen den Frauen helfen, sich wohlzufühlen", sagt Knorr (44).
Die beiden haben an einer dreiteiligen Schulung teilgenommen, in der sie zum Beispiel in Rollenspielen geübt haben, wie sie bei übergriffigem Verhalten reagieren können. Anschließend sind sie von den Frauen der Dorfgemeinschaft in ihr Amt gewählt worden. Als erste "Amtshandlung" initiierten sie mit Unterstützung einer Mitarbeiterin das Frauencafé – in regelmäßigen Abständen treffen sich die Bewohnerinnen der Dorfgemeinschaft im Hohenrother Café abends zum gemeinsamen Austausch. Das kam so gut an, dass Christiane Knorr in ihrem Job im Gemüseverkauf nun ständig von anderen Bewohnerinnen gefragt wird, wann die Veranstaltung wiederholt wird. "Das ist schön, dass Frauen mit Wünschen zu uns kommen", sagt Knorr.
Frauenbeauftragte unterstützen Betroffene
Aber auch ernste Fälle gab es schon. Eine Mitbewohnerin kam zu den Frauenbeauftragten, weil ein Mann sie gegen ihren Willen angefasst hatte. Michelle Konrad ging gemeinsam mit der Betroffenen zu Elfriede Denk, der koordinierenden Fachkraft für den Betreutenschutz. "Dass Michelle dabei war, hat es für die Betroffene leichter gemacht, mir gegenüber alles zu erzählen", so Denk. "Michelle ermutigte die Bewohnerin dazu, das Gespräch mit mir zu suchen."
Aus Sicht von Denk ist es wichtig, mit Knorr und Konrad zwei Frauenbeauftragte in der Fläche zu haben. "Für die Frauen wird der Zugang so niedrigschwelliger. Zu mir würden sie von sich aus vielleicht nicht kommen, aber mit den Frauenbeauftragten haben sie jemanden, der aus ihrem Lebensalltag kommt und die Kontaktaufnahme gelingt leichter." Es sei auch ein wichtiges Signal an die Bewohnerinnen, dass sie selbst viel bewirken können.
Bewohnerinnen lernen Selbstbehauptung
Im Dorf gibt es klare Regeln, festgeschrieben in einem Konzept für Sexualität und einem für Gewaltschutz. "Wenn zwei Personen sich mögen, dann ist das etwas Schönes und nicht verboten. Aber eine wichtige Regel ist, dass bei Berührungen immer beide einverstanden sein müssen", erklärt Denk.
Im Fall einer Grenzverletzung gibt es verbindliche Verfahrenswege für alle Mitarbeitenden im Gewaltschutzkonzept, die dann greifen. Der Schutz für Betroffene hat immer Priorität. Zum Beispiel schaut Elfriede Denk, gemeinsam mit der Betroffenen, was es braucht, um sich wieder sicher und geschützt zu fühlen, ob Strafanzeige erstattet werden soll, eine spezialisierte Beratungsstelle weiterhelfen kann, bleibt mit ihr im Gespräch.
Auch mit dem Bewohner, der beispielsweise ohne Einverständnis eine Mitbewohnerin angefasst hatte, führt Denk ein klärendes Gespräch, lässt sich die Situation aus seiner Sicht erklären und geht mit ihm die Regeln zum respektvollen Umgang noch einmal durch. Je nach Situation wird in Zusammenarbeit mit Leitung und direkten Bezugspersonen über weitere Maßnahmen entschieden, die künftige Grenzüberschreitungen möglichst verhindern. Auch eine räumliche Trennung durch einen Arbeitsplatzwechsel kann sinnvoll sein, damit die beiden beteiligten Personen im Alltag weniger Kontakt haben.
Ziel der Konzepte ist die Prävention und der Schutz vor Gewalt. Die Bewohnerinnen und Bewohner werden über ihre Rechte aufgeklärt, darüber, was Gewalt ist und wie die Verhaltensregeln für Mitarbeitende und Bewohner und Bewohnerinnen sind. Auch Selbstbehauptungskurse werden regelmäßig angeboten. "Das macht total Spaß", sagt Knorr. Jede Teilnehmerin darf ein Brettchen durchschlagen, um zu sehen, wie stark sie ist.
"Frauen sollen wissen, dass sie sich wehren können"
Denk erklärt: "Alle Bewohnerinnen und Bewohner sollen selbstbestimmt leben und auch Wege haben, sich zu beschweren." Ansprechbar sind neben den beiden Frauenbeauftragten auch der pädagogische Fachdienst und der Bewohnerrat. Außerdem gibt es einen Flyer, der in einfacher Sprache erklärt, wie man sich bei der Heimaufsicht beschweren kann.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und werden in der Einarbeitung zu den Konzepten geschult. Auch in regelmäßigen Fortbildungen wird zu den Themen "Umgang mit Sexualität" und "sexualisierte Gewalt" sensibilisiert. Bei der Einstellung unterschreiben Mitarbeiter eine Selbstverpflichtung, die Bewohner wertschätzend und respektvoll zu behandeln.
"Menschen mit Behinderung, die täglich auf Unterstützung angewiesen sind, haben oft gelernt, sich angepasst zu verhalten und sich nicht zu beschweren", erklärt Denk die Problematik. In der Frauengruppe, die sich regelmäßig trifft, wiederholen Denk und die beiden Frauenbeauftragten deswegen immer wieder, was in Ordnung ist und was nicht. Auch Begrifflichkeiten werden in der Gruppe geübt, denn wer keine Worte für seine Geschlechtsorgane hat, kann auch sich auch nicht gut beschweren. "Die Frauen sollen wissen, wie sie sich wehren können, und dass sie nicht allein sind, weil sie Michelle und mich haben", sagt Knorr.