
Arbeitsüberlastung, organisatorisches Chaos, zu geringe personelle Ausstattung und veraltete Technik – jahrelang warnten Experten die Staatsregierung vor Problemen. Jetzt sind Bayerns Gesundheitsämter sehr schlecht auf die Pandemie vorbereitet, sagt der Lohrer Dirk Rieb. Der 43-Jährige ist Hygieneoberinspektor am Bezirkskrankenhaus in Lohr und stellvertretender Landesvorsitzender des Berufsverbands der Bayerischen Hygieneinspektoren. Im Interview spricht er über Zuständigkeiten, Probleme - und wo er die größten Fehler sieht.
Dirk Rieb: Amtsärzte sind plötzlich dauerkrank und Hygiene-Inspektoren müssen teilweise die Leitungsfunktion übernehmen. Problematisch ist die Leitung der Contact-Tracing-Teams durch fachfremde Personen, die keine Verwaltungserfahrung und keine Kenntnisse in der Infektionshygiene haben. Das neue, nur befristet eingestellte Hilfspersonal ist meist fachfremd und es ist ein sehr hoher Zeitaufwand für dessen Einarbeitung notwendig. Die Einarbeitung erfolgt in der Regel durch die Hygiene-Inspektoren, die eh schon monatelang am Limit arbeiten und immer mehr zusätzliche Aufgaben aufgebürdet bekommen. Auffällig ist eine Häufung von Beschwerden von Betroffenen. So passiert es beispielsweise, dass vom gleichen Gesundheitsamt Quarantänepflichtige von vier verschiedenen CT-Hilfsmitarbeitern angerufen werden. Jeder erzählt etwas anderes, es werden unterschiedliche falsche, widersprüchliche oder rechtlich fragwürdige Anweisungen erteilt.
Rieb: Es ist nur noch ein Schönreden. Die Inzidenzzahlen sind in der zweiten Welle deutlich höher als im Frühjahr 2020. Bei so hohen Infektionszahlen in den kreisfreien Städten und Landkreisen kann das örtliche Gesundheitsamt – selbst mit den neu geschaffenen CT-Teams – eine erforderliche und schnelle Kontaktnachverfolgung nicht gewährleisten. Dadurch werden die Infektionsketten schon seit Längerem nicht mehr vollständig und zügig ermittelt.
Rieb: Hygiene-Inspektoren mühen sich seit Monaten sieben Tage die Woche, oft zwölf bis 14 Stunden täglich ab. Ihre physischen und psychischen Belastungsgrenzen sind längst überschritten. Dadurch haben sich bei vielen Kollegen schon bis zu 1000 Überstunden angehäuft und teilweise konnte auch der zustehende, dringliche Jahresurlaub noch nicht genommen werden. Angesichts der langen Abwesenheitszeiten und unzureichenden Regenerationsmöglichkeiten drohen Familien und soziales Umfeld zu zerbrechen.
Rieb: Während der Corona-Pandemie und der chronischen Unterbesetzung unterblieben die vielfältigen infektions- sowie umwelthygienischen und gesetzlich vorgeschriebenen Routinekontrollen – beispielsweise Trinkwasser-Grenzwertüberschreitungen durch Legionellen-Kontamination. Nicht zu vernachlässigen ist auch der enorme Zeitaufwand, den unsere Berufsgruppe aufbringt, um vielfältige Unkenntnisse, Fehler und Falschauskünfte der diversen angelernten Corona-Unterstützungskräfte zu bereinigen.

Rieb: Den betreffenden Ministerien sind unsere Anliegen bestens bekannt. Es wurde immer mal wieder nur punktuell etwas verbessert. Dies gelang aber stets nur mit dankenswerter Unterstützung von Landtagsabgeordneten. Aber der größte Teil unserer für die Volksgesundheit wichtigen Forderungen wurde bis heute leider nicht umgesetzt. Es wurde immer wieder damit begründet, dass die Berufsgruppe der Hygiene-Inspektoren leider nur eine kleine Berufsgruppe innerhalb des Personalkörpers des Innenministeriums darstellt und eben die großen "staatstragenden" Berufsgruppen wie Polizisten und Lehrer mehr Raum einnehmen müssen. Im Übrigen seien die "besonderen bayerischen Belange" permanent zu berücksichtigen – was auch immer das heißen mag. Weiterhin wurde immer wieder betont, dass es ja in den Gesundheitsämtern "gut laufe" und es keine öffentlichkeitswirksamen Skandale gäbe – im Gegensatz zum öfters unleidigen Lebensmittelbereich. Dort hätte man dann mehr Handlungszwänge. Wobei wir betonen müssen, dass in unserem Arbeitsfeld genügend skandalträchtige Ereignisse auftreten, diese aber leider wegen der Schweigepflichtsvorgaben zumeist nicht publik werden.
Rieb: Diese Stellen sind fast ausschließlich in den oberen Besoldungsgruppen ausgebracht! Dafür könnten sehr viele Stellen vor Ort in den Gesundheitsämtern geschaffen werden. Diese werden lediglich mit 45 Amtsarzt-Stellen und 41 Hygienekontrolleur-Stellen verstärkt. Dieser Stellenplan setzt eindeutig die falschen Signale: Das Dachgeschoss wird ausgebaut und das schmale Fundament außer Acht gelassen
Rieb: Unser Berufsverband wünscht sich seit vielen Jahren, dass das Gesundheitsministerium neben der fachlichen Zuständigkeit auch personalrechtlich für unsere Berufsgruppe zuständig ist. So wie es eben bei den Amtsärzten auch der Fall ist. Diese Bekundung haben wir immer wieder bei anstehenden Neugestaltungen der Ressorts oder bei einem Ministerwechsel entsprechend schriftlich vorgebracht. Leider hat sich bis dato nichts getan. Es liegt auch an den Landräten, die den Zugriff auf unsere Fachbeamtengruppe über das Innenministerium beibehalten wollen. Fragestellungen zu unserer Berufsgruppe werden zwischen Innen- und Gesundheitsministerien hin- und hergeschoben. Doch gerade diese Pandemie hat eindeutig gezeigt, dass "alles aus einer Hand" – also beim Gesundheitsministerium – eine viel effektivere und durchgängigere Lösung wäre. Es wird sich noch erweisen müssen, ob Ressortchefin Melanie Huml (CSU) sich gegenüber ihrem Parteifreund, dem allmächtigen Innenminister Joachim Herrmann, sowie den Landräten durchsetzen kann.
Rieb: Unsere Gesundheitsämter vollziehen hoheitliche Tätigkeiten im Bereich des Infektions- und Umweltschutzes, sie sind eine Art Gesundheitspolizei. Darunter fallen unter anderem die Überwachung der Trinkwasseranlagen, Frei- und Hallenbäder, Krankenhäuser und Gemeinschaftseinrichtungen. Der direkte Vorgesetzte des Gesundheitsamts ist der jeweilige Landrat. Kommunalpolitische Einflüsse bleiben folglich nicht aus. Denn die Landkreise betreiben häufig eine Trinkwasserversorgung, ein Frei- oder Hallenbad, ein Krankenhaus oder ein Pflegeheim. Weiterhin werden sehr häufig auch Wasserzweckverbände von Landräten geführt. Eine Eigenständigkeit der Gesundheitsämter, Veterinärämter und auch der Lebensmittelkontrolle, wie sie schon früher bestand, wäre aus Sicht unseres Berufsverbands eine dringliche Maßnahme, um unabhängig und gesetzmäßig die vielen hoheitlichen Aufgaben im Bereich des Infektions- und Umweltschutzes vollziehen zu können.
Rieb: Das Anlernen für die Berufsfremden ist sehr zeitintensiv. Vor allem fehlen das medizinische und infektionshygienische Hintergrundwissen und auch teilweise Kenntnisse in Verwaltungsabläufen im Gesundheitsamt. Kurze Zeit später müssen sie wieder an ihre Dienststellen zurückkehren oder irgendwelche Lehrgänge in den Stammberufen besuchen. Dazu kommt, dass häufig keine ausreichenden Arbeitsplätze verfügbar sind und dadurch die vorhandenen knappen Büros überbelegt werden, was infektionshygienisch äußerst bedenklich ist. Die allseits propagierten Abstandsregeln sehen anders aus.
Rieb: Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Zum einen kann die Flut der sich ständig ändernden und teilweise widersprüchlichen Corona-Bestimmungen, Bekanntmachungen, Allgemeinverfügungen, Richtlinien, Regelungen, Empfehlungen, Informationen, Hinweisen, Orientierungshilfen, Checklisten, FAQ, die von RKI, Gesundheits- und Innenministerium, Landesgesundheitsamt, Bezirksregierungen, Landratsämtern, Fachgesellschaften et cetera zeitlich gar nicht mehr bewältigt werden. Zum anderen liegt die EDV-Ausstattung der einzelnen Gesundheitsämter in den Händen der eigenverantwortlichen Landratsämter. Eine bayernweit einheitliche Software für Gesundheitsämter wurde vor Jahren vom Gesundheitsministerium aus Kostengründen blockiert. Und so mancher Amtsarzt hält an "altbewährten" Exceltabellen und Faxtechnik unverrückbar fest.
Rieb: Die Gesundheitsämter sind bei der Planung und beim Betrieb der Corona-Impfzentren komplett außen vor. Die jeweiligen Landkreise werden sich dabei vermutlich eines privaten Dienstleisters bedienen – bei uns im Main-Spessart-Kreis zum Beispiel durch das Bayerische Rote Kreuz. Das Ganze ist eine große logistische Herausforderung – alleine schon, wenn man das Erfordernis einer zweiten Impfung betrachtet. Hier müssen die Patienten innerhalb eines klaren zeitlichen Fensters ihre zweite Impfdosis nach genau vier Wochen erhalten, damit die Impfung auch wirksam wird. Hier ist aus meiner Sicht eine enorme terminliche Disziplin erforderlich – ganz abgesehen von dem geplanten schriftlichen Einladungsmanagement. Es ist zu befürchten, dass bei erheblichen Problemen nach der Kompetenz der Gesundheitsämter gerufen werden wird. Dies würde zum gänzlichen Zusammenbruch der Gesundheitsämter führen.
Dirk Rieb
Das Interview ist zuerst in der Bayerischen Staatszeitung erschienen.