
Immer wieder schaut sich Anna beim Gehen nach hinten um. Fast, als würde sie erwarten, dass jemand sie verfolgt. Während sie am Schalter in der Bank Geld abhebt, zittert ihr Bein. Ein kleiner Junge spielt im Foyer der Bank mit einem Luftballon. Ein unbeschwerter, fröhlicher Anblick. Doch bei der Anna rufen die schnellen Bewegungen nur Stress hervor.
Nach dem Bargeldabheben geht es einmal quer über den Karlstadter Marktplatz und rechts die Straße entlang. Für die Reis-Gemüse-Pfanne, die Anna heute kochen möchte, braucht sie noch Reis, Zucchini und eine Aubergine. Sie könnte alle Zutaten auch in einem regulären Supermarkt kaufen, doch dort ist zu viel los. Sie geht lieber in den kleinen Stadtladen. Zucchini und Auberginen hat er nicht, aber immerhin Reis. Während sie an der Kasse ansteht, rennt ein kleines Kind an ihr vorbei. Hinter ihr rollt krachend eine Frau gelbe Dhl-Boxen um die Ecke. Das alles ist zu laut, zu viel für Anna.
Später erzählt sie, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, wieviel der Reis gekostet hat, wieviel Geld sie der Kassiererin gegeben hat oder wie viel sie zurückbekommen hat. Sie schafft es gerade noch aus dem Laden raus, auf eine Bank gegenüber, bevor ihre Beine nicht mehr wollen.
Was eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist
Solche Erlebnisse sind Annas Alltag. Die 22-Jährige hat eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Dr. Giti Bakhtiari, Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Würzburg, erklärt: "Unter einer PTBS – einer Posttraumatischen Belastungsstörung – versteht man eine langanhaltende Belastungsreaktion, die entstehen kann, nachdem man ein Trauma erlebt hat." Die komplexe PTBS ist eine besonders schwere Form, bei der "meist eine Reihe von extrem bedrohlichen oder schrecklichen Ereignissen vorlag, die meist länger andauernden oder sich wiederholten, wie beispielsweise wiederholter sexueller Missbrauch, anhaltende häusliche Gewalt, Folter, Sklaverei", so Dr. Bakhtiari.
Die Folgen können sich unterschiedlich äußern. "Zu den Symptomen gehören zum Beispiel sich aufdrängende Erinnerungen, Albträume, Schlafprobleme, körperliche Anspannung oder Gefühle wie Angst, Wut oder Scham", so die Therapeutin. Durch die Belastungsstörung kommen oft weitere Symptome dazu: Probleme bei der Emotionsregulation, in sozialen Beziehungen sowie in weiteren Lebensbereichen, zum Beispiel im Beruf oder in der Familie.
Anna kämpft seit 2017 mit den Symptomen
Bei Anna wurde die komplexe PTBS durch Gewalt und Missbrauch in verschiedenen Kontexten ihrer Kindheit und Jugend ausgelöst. Ihre Symptome sind 2017 zum ersten Mal aufgetreten. Seitdem kann ihr Gehirn Reize nicht mehr filtern. Alles was schnell, laut oder sehr bunt ist, ist für sie purer Stress. Sirenen, rennende Kinder, klappernde Kisten, Supermärkte wie der Stadtladen. Kommen zu viele Reize zusammen, führt es unter anderem dazu, dass sich Annas Gehirn von verschiedenen Körperteilen wie den Beinen oder den Armen dissoziiert, das Gehirn also kurzzeitig den Kontakt zu ihnen verliert. Dann kann sie ihre Beine oder Arme nicht mehr spüren und bewegen.

Regelmäßig bekommt Anna in Stresssituationen aber auch Krampfanfälle, ähnlich wie epileptische Anfälle, nur aus einer anderen Ursache. Wenn sie bei einem solchen Anfall auf den Boden stürzt, kann das schnell gefährlich werden. Diese ständige Gefahr schränkt Anna in allen Lebensbereichen ein. Sie ist immer von Familie und Freunden abhängig, kann selten irgendwo alleine hingehen.
Assistenzhunde können den Alltag Betroffener erleichtern
Damit sie wieder selbstbestimmter leben kann, soll ein Assistenzhund ihr helfen. Hunde können Veränderungen im Hormonhaushalt und damit Stress riechen und so einige Minuten vor einem Anfall warnen. Einige Minuten, in denen Anna sich in eine sichere Umgebung begeben kann. Einige Minuten, die den Unterschied zwischen eigenständigem Leben und Machtlosigkeit ausmachen.
Die Ausbildung eines PTBS-Assistenzhund ist jedoch sehr aufwendig. Bis zu 20 Aufgaben muss der Hund innerhalb der Assistenz übernehmen können, erklärt Claudia Ganzenmüller, Assistenzhund-Trainerin. Annas Assistenzhund Atlas ist gerade bei Claudia und lernt dort unter anderem, Anna ihre Notfalltasche zu bringen, vor einem Anfall frühzeitig zu warnen, eine Sitzmöglichkeit zu suchen oder auch zu blockieren, damit andere Menschen Anna nicht auf die Pelle rücken können. All das übt Claudia mit Atlas sechs Tage in der Woche, über vier bis fünf Monate hinweg.

Die Kosten für einen Assistenzhund sind hoch
Zusammen mit der eigentlichen Anschaffung des Hundes und den gesetzlichen Auflagen, die erfüllt werden müssen, liegt der Kostenvoranschlag für die Atlas Ausbildung bei 22.800 Euro. Eine hohe Summe, die Annas Familie alleine zahlen muss. Krankenkassen übernehmen die Kosten nur für Blindenhunde, denn "Assistenzhunde erfüllen nicht die Voraussetzungen eines Hilfsmittels, diese müssen die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigen oder mildern", so Helge Dickau, Sprecher des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen.
Einen Großteil des Betrags konnte die Familie schon durch Stiftungen decken, trotzdem fehlen noch 6300 Euro. Den Rest hofft Anna durch Spenden finanzieren zu können, damit Atlas wie geplant in wenigen Monaten Annas neuen Lebensabschnitt einläuten kann.
Wenn Sie Anna bei der Finanzierung des Assistenzhundes unterstützen möchten, können Sie an folgendes Konto spenden: DE78 7705 0000 0303 4502 66, Stichwort "Assistenzhund". Der Redaktion ist der Nachname von Anna und ihrer Familie bekannt. Wir verzichten in diesem Artikel darauf, ihn zu nennen, um die Familie zu schützen.