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Wernfeld
Kindsein ohne Angst und Gewalt: Wernfelderin betreut zwei Pflegekinder wie ihre eigenen
Familie Russo hat vier Pflegekinder bei sich aufgenommen – zwei davon blieben auf Dauer. Warum in einem Fall sogar enger Kontakt zu den leiblichen Eltern besteht.
Angela und Christian Russo vor einer Wand mit Bildern ihrer vier Kinder in ihrem Haus in Wernfeld. Zwei davon haben sie als Pflegekinder aufgenommen, betrachten sie aber als ihre eigenen.
Foto: Anna Kirschner | Angela und Christian Russo vor einer Wand mit Bildern ihrer vier Kinder in ihrem Haus in Wernfeld. Zwei davon haben sie als Pflegekinder aufgenommen, betrachten sie aber als ihre eigenen.
Anna Kirschner
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:01 Uhr

Im Landkreis Main-Spessart gibt es aktuell 70 Pflegefamilien. Sie sorgen etwa im Anschluss an Inobhutnahmen durch das Jugendamt für die betroffenen Kinder und geben ihnen ein vorübergehendes oder dauerhaftes neues Zuhause. Eine Familie, die dauerhaft zwei Pflegekinder aufgenommen hat, ist Familie Russo aus Wernfeld.

Wie Angela Russo erklärt, machen sie und ihr Mann Christian keinen Unterschied zwischen ihren leiblichen und ihren Pflegekindern. "Wir haben nicht zwei Pflegekinder und zwei leibliche Kinder. Wir haben vier Kinder, Punkt." Sie ist eben die Mama von allen Vieren – auch wenn Tobias (Name durch die Redaktion geändert), der ältere der beiden Pflegesöhne, mittlerweile in einer Jugendhilfeeinrichtung lebt. Damit ist er offiziell kein Pflegekind mehr, doch für Russo bleibt er ihr Sohn und ist am Wochenende und in den Ferien überwiegend zu Hause. 

Russo war schon im Kinderheim tätig

Wie kommt es, dass man entscheidet, Pflegekinder wie die eigenen aufzunehmen? Zum einen wollten die Russos immer eine große Familie, erzählt Angela Russo. Ihr Mann Christian Russo sei selbst mit vielen Geschwistern aufgewachsen. Zum anderen ist sie Heilerziehungspflegerin und war schon im Kinderheim tätig. "Ich habe relativ schnell für mich entschieden, da habe ich meinen Mann noch nicht einmal gekannt, dass ich das später machen möchte. Ich finde, Kinder kommen auf die Welt und haben von vornherein entweder eine A-Karte gezogen oder auch nicht. Und das ist traurig", sagt Russo.

Die Eltern täten ihr leid, wenn sie mit psychischen Krankheiten, Sucht oder anderem kämpften. "Die können ja nichts dazu, man steht ja nicht eines Tages auf und entscheidet sich, eine Spritze in den Arm zu stecken. Aber was ist mit diesen Kindern? Die haben das Recht darauf, in einer gesunden Familie aufzuwachsen, wo sie Kinder sein dürfen, wo es keine Angst, keine Gewalt gibt", sagt Russo.

Für die vier Kinder der Russos selbst ist einerseits klar, dass es Unterschiede zwischen ihnen gibt. Andererseits sei selbstverständlich für sie, sagt Angela Russo, dass sie Geschwister sind. Der leibliche Sohn Luca war ein Jahr alt, als der eineinhalbjährige Tobias dazukam. Da nie ein Geheimnis daraus gemacht wurde, sprach Russo mit ihnen auch über den Unterschied. "Ich habe dann gesagt, es gibt eine Herz- und eine Bauchmama. Die Herzmama ist die, die sich für dich entscheidet und dich großzieht. Und die Bauchmama ist die, in deren Bauch du groß geworden bist."

Familie wollte nur dauerhaft Pflegekinder aufnehmen

Die Russos wollten nur Dauerpflegeplätze anbieten. Doch es gibt keine Garantie: Zweimal kamen Kinder zu den Russos, die wieder zu ihren Eltern zurückgeführt wurden. Auch das musste Angela Russo den Kleinen dann verständlich machen. "Ich habe den Kindern erklärt, es gibt Menschen, die haben Probleme und wenn die Probleme so groß sind wie ein Berg, dann können sie ihre Kinder nicht versorgen", erzählt Russo. Wenn die Eltern den Berg verkleinern können, kämen die Kinder wieder zurück. 

Eines der zwei nur kurzzeitig bei ihnen lebenden Pflegekinder war noch ein Säugling, erzählt Russo. "Ich habe nur mit einem Auge geweint, weil das Kind ja auch zu seiner Mama gehört", sagt sie rückblickend. "Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass die Kinder wieder zurückkönnen, dann ist es natürlich richtig so." Dennoch wollte sie danach erstmal keine Pflegekinder aufnehmen, denn die Rückführungen waren für die ganze Familie, insbesondere für Tobias, eine Belastung und Verunsicherung.

Beim jüngsten Sohn, dem Dreijährigen, ist so gut wie sicher, dass er nicht zu seiner Eltern zurückkehren wird. Diese haben geistige Einschränkungen und können aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht angemessen für das Kind sorgen, erzählt Russo. Nur eine Woche Zeit war für die Entscheidung, ob sie das Markus (Name von der Redaktion geändert) aufnehmen können und wollen. "Wir haben uns als Familie für das Kind entschieden, die Kinder wurden gefragt", erzählt Russo. Erst kurz vor der Geburt kam die Nachricht vom Jugendamt. "Ich hatte kein Spucktuch, ich hatte gar nix. Es haben mich zwar alle verrückt erklärt, aber auf eine liebe Art und Weise. Sie haben gesagt: Du spinnst, was brauchst du?" Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sämtlichen Babybedarf zusammen.

Direkt nach der Geburt in Obhut genommen

Da ein Familiengericht schon vor dessen Geburt entschieden hatte, dass Markus dauerhaft nicht bei seinen leiblichen Eltern bleiben kann, konnte Russo ihn schon nach der Geburt im Krankenhaus aufnehmen. "Das war für mich total schön. Ich war erst mal drei Tage mit ihm im Krankenhaus und dann bin ich mit ihm heim. Und für das Kind war es auch klasse. Natürlich hat es schon einen Bindungsabbruch erlebt. Aber es ging halt nahtlos weiter und dadurch konnte eine ganz andere Beziehung entstehen", erklärt sie. "Für die Eltern ist es natürlich unwahrscheinlich traurig."

Heute, drei Jahre später, besteht aber immer noch Kontakt zu Markus' leiblichen Eltern. Sie hielten ihn bei seiner Taufe, es gibt eine Patentante von den Russos, einen Patenonkel von der leiblichen Familie. Auch Angehörige von Markus' leiblichen Eltern sind involviert. Diese würden sogar anrufen, wenn andere Kinder in der Familie Russo Geburtstag haben, erzählt Russo. "Dass das hier so gut läuft, das ist nicht die Regel. Es sollte auch nicht die Regel sein. Man muss sich da abgrenzen können", findet sie. In vielen Fällen würden die leiblichen Eltern die Situation nicht akzeptieren, oder dürften nicht einmal wissen, wo ihr Kind untergebracht ist. "Es gibt auch Pflegeeltern, die wollen gar keine Eltern sein", sagt Russo. "Bei denen ist klar, ich bin nicht die Mama. Ich bin die Tanja. Und es ist nicht falsch, das so zu machen."

Leben mit Pflegekindern ist eine Herausforderung 

Das Leben mit Pflegekindern ist eine Herausforderung. "Es kann was ganz Tolles sein, aber es ist eine Riesenverantwortung", sagt Russo. "Die Pflegekinder haben in der Regel alle ihr Päckchen mitgebracht. Viele von den Kindern, auch Kleinkinder, kommen mit Bindungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten. Manche Kinder müssen erstmal einen Entzug mitmachen. Selbst ein Kind mit eineinhalb: Unbewusst kann es sich an alles erinnern." Ein Pflegekind aufzunehmen will daher – wie das Elternwerden überhaupt – gut überlegt sein. "Das Leben verändert sich auf jeden Fall. Und man sollte sich da wirklich bewusst sein, dass das eine Zerreißprobe ist auch für die Partnerschaft."

Bereut haben sie es nicht, sagen Christian und Angela Russo. "Es gibt schon so fünf Prozent in mir, die manchmal sagen, ich hätte es auch leichter haben können", sagt Angela Russo dennoch. "Ich liebe meinen Beruf, ich hätte auch da meine Erfüllung finden können. Aber das ist wirklich nur an schwierigen Tagen." Doch die Kinder gäben einem viel zurück und man könne sehen, wie man den Kindern mit ihren Päckchen helfen kann. "Es ist kein Beruf, sondern eine Berufung", sagt Russo.

Pflegefamilien

Zahlen: Im Landkreis Main-Spessart gibt es 70 Pflegefamilien, von denen nur acht derzeit nicht belegt sind. Weitere fünf Familien sind noch im Bewerbungsverfahren. 2022 gab es 34 Inobhutnahmen durch das Jugendamt, wie das Landratsamt mitteilt. Davon gingen neun Minderjährige zu Bereitschaftspflegefamilien. Auch unbegleitet aus dem Ausland eingereiste Minderjährige sind in diesen Zahlen enthalten. Pflegeeltern bekommen Pflegegeld, gestaffelt nach Alter des Kindes: Im Landkreis Main-Spessart sind es bis sechs Jahre 923 Euro, von sieben bis zwölf Jahren 1041 Euro, ab 13 Jahren gibt es 1197 Euro.
Arten der Pflege: Es gibt Bereitschaftspflegefamilien, die ein Kind spontan aufnehmen und in einem begrenzten Zeitraum betreuen, bis entschieden ist, wie es für das Kind weitergeht. In die Kurzzeitpflege kommen Kinder für einen begrenzten Zeitraum, zum Beispiel wenn Eltern ins Krankenhaus müssen und es niemanden gibt, der sich um das Kind kümmern kann. In die Dauerpflege kommen Minderjährige, wenn sich die leiblichen Eltern in absehbarer Zeit nicht angemessen um das Kind kümmern können. Widersprechen die leiblichen Eltern der Inobhutnahme, muss ein Familiengericht über die erforderlichen Maßnahmen entscheiden. Dazu werden zum Beispiel auch Gutachten über die Erziehungsfähigkeit der Eltern angefertigt. Eine Adoption von minderjährigen Pflegekindern ist nur mit Einwilligung der leiblichen Eltern möglich.
BLJA/Bayernportal/SGB VIII/anki
 
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