
Boshra Ottoman ist eine selbstbewusste junge Frau. Dazu hat sie auch allen Grund. Vor drei Jahren kam sie aus Syrien nach Deutschland, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Jetzt hat sie an der Theodosius-Florentini-Schule in Gemünden (Lkr. Main-Spessart), dem früheren Mädchenbildungswerk, ihr Abitur gemacht. Unter anderem musste sie dafür im Fach Deutsch ein Gedicht analysieren. Die 20-Jährige bekam keinen Bonus bei der Benotung, nur weil sie erst seit Kurzem die Sprache beherrscht. Andererseits ist sie so ehrgeizig, dass sie ihren Abischnitt nicht in der Zeitung lesen möchte, weil er aus ihrer Sicht nicht super war.
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In Deutschland fühlt sich die fröhliche Syrerin wie befreit. Sie kommt aus einem Vorort von Damaskus und musste ein Kopftuch tragen, seit sie 12, 13 Jahre alt war. In einer Koranschule musste sie Suren auswendig lernen, erzählt sie. Heute hat sie ihr Kopftuch abgelegt. Auch Fahrradfahren hat sie hier gelernt, "in Syrien", sagt sie, "fahren Mädchen kein Fahrrad". Schwimmen hat sie sich mehr oder weniger selber beigebracht. In Gemünden geht sie, in ihrer Heimat undenkbar, mit ihren Freundinnen ins Freibad – im Bikini. In Syrien wachsen Jungen und Mädchen ab der 6. Klasse in getrennten Welten auf. Unbefangen mit einem Jungen zu reden sei nicht möglich.
Mit ihrer Mutter floh sie aus Syrien
Boshra war 17 Jahre alt, als sie, das einzige Kind ihrer Eltern, mit ihrer Mutter aus Damaskus in die Türkei floh. Ihr Vater wollte damals nicht. Aber zum Schluss sei der Weg zur Schule zu gefährlich gewesen, und sie wollte doch unbedingt Physik studieren. Also weg aus Syrien. Einzelheiten der Flucht möchte sie nicht erzählen. Sie blicke nicht gern zurück. Nur so viel: Über die Türkei und Griechenland ging es weiter nach Serbien, Kroatien und Slowenien bis nach Österreich. In Passau passierten sie die deutsche Grenze.
Sie wollten weiter nach Schweden, wo seit vielen Jahren schon Verwandte ihrer Mutter leben. In dem Dorf 300 Kilometer nördlich von Stockholm, wo sie landeten, habe es nicht einmal einen Laden gegeben. Boshra Ottoman lernte die Sprache, schloss Freundschaften und besuchte ein Gymnasium. Nach neun Monaten kam der Schock: Weil sie in Passau ihre Fingerabdrücke abgegeben hatten, mussten sie nach Deutschland zurück.
Die Florentini-Schule nahm sie auf, obwohl sie kein Deutsch sprach
Wieder ein neues Land, wieder eine neue Sprache. So kam sie mit ihrer Mutter im Sommer 2016 nach Gemünden, wo sie ein Jahr in einer Gemeinschaftsunterkunft lebten. Ihr Vater kam im Februar 2019 nach. Die Mutter ist Elektroingenieurin, der Vater Geschichtslehrer. "Sie wollten, dass ich einen akademischen Abschluss habe", sagt die 20-Jährige. "Meine Mama hat überall versucht, mich anzumelden." Aber die Gymnasien hätten abgewunken, sie hätte erst ein Jahr Deutsch lernen sollen. Aber dann, sagt sie, hätte sie aufgrund ihres Alters nicht mehr in die 10. Klasse gekonnt und es wäre nichts mit dem Abi geworden. Einzig die private Florentini-Schule erklärte sich bereit, ihr eine Chance zu geben. Aber die Schule habe auch betont: "Das ist nur ein Experiment." Kann das funktionieren – ohne ein Wort Deutsch?
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Schulleiter Robert Wolz sagt auf Anfrage: "Wir haben sie einfach reinwachsen lassen." Sie habe einfach gewollt. Außerdem habe sie offenbar eine außerordentliche sprachliche Begabung. Außergewöhnlich sei auch gewesen, dass Boshra in der 10. Klasse in der Jahrgangsprüfung in Mathematik Klassenbeste war, ohne vorher in Deutschland Matheunterricht gehabt zu haben. Weitere Flüchtlingskinder aufzunehmen sei bislang daran gescheitert, dass die Florentini-Schule weder Ethik noch muslimischen Religionsunterricht anbiete. Die jetzt 20-jährige Boshra habe hingegen einfach an evangelischer Religion teilgenommen. Zur aktuellen Debatte, ob Schüler ohne Deutschkenntnisse eingeschult werden sollten, sagt Wolz, dass der Staat dafür Sorge tragen müsse, dass die Kinder vorher Deutsch lernen. Das findet auch Boshra Ottoman, obwohl es bei ihr auch anders geklappt hat: "Ich finde schon, dass Kinder wenigstens ein paar Sätze sagen können sollten. Der Rest wird sich von alleine ergeben."
Boshra Ottoman tastete sich langsam heran ans Deutsche
Mit ihren Klassenkameradinnen sprach die Abiturientin zu Beginn Englisch. Nur die Lehrer hätten mit ihr konsequent Deutsch geredet. "Am Anfang hab ich natürlich nichts verstanden." Sie habe sich sehr fremd gefühlt, sagt sie, die in ihrer Klasse die einzige Nicht-Deutsche war. Und bis zur Mitte der 11. Klasse war sie auch nur Gast an der Schule. Ihre Mutter setzte sich zu Hause mit Hilfe eines Wörterbuchs hin und übersetzte ihr die Schulbücher. In der 10. Klasse habe sie erst einmal nur die Schulaufgaben in Mathe und Physik mitgeschrieben. Erste einfache Sätze auf Deutsch konnte sie um Weihnachten 2016 herum.
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Ohne einen speziellen Deutschunterricht klappte es, dass sie ab der 11. Klasse alle Schulaufgaben mitschrieb und von da an mit allen Deutsch sprach. Im Deutschunterricht stand der klassische Literaturkanon auf dem Programm: Kafkas "Verwandlung", Fontanes "Effi Briest" und Goethes "Faust". Das sei für sie ein hartes Brot gewesen. "Ich musste im Internet Zusammenfassungen lesen oder auf Youtube irgendwas anschauen." Auch ihre Freundinnen halfen ihr. Sie fühlte sich nicht mehr fremd, sondern gut aufgenommen. Sie feierte Weihnachten und Fasching mit, geht mit ihren Freundinnen auf Partys.
Besonders dankbar ist Boshra Ottoman Lehrerin Louisa Kubik, die sie zwei Jahre lang jede Woche immer eine Stunde intensiv vor allem aufs Deutschabi vorbereitet hat. Kubik, 32, hat im Referendariat schon mit Flüchtlingen gearbeitet. Die Schülerin sei sehr motiviert gewesen, sagt sie. "Sie hat alle Tipps und Hilfestellungen angenommen." Fast wöchentlich habe sie einen Deutschaufsatz abgegeben, jeden Früh Zeitung gelesen und zu Hause deutsches Fernsehen geschaut.
Studium an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen
Während alle ihre Freundinnen noch in Syrien sind, studiert Boshra Ottoman ab Oktober in Erlangen. Nicht Physik, wie ursprünglich gedacht, aber Energietechnik und Energiemanagement. Erneuerbare Energien haben es ihr angetan. "Ich finde es wichtig, dass man in die Zukunft schaut und nach langfristigen Lösungen sucht."
Auf die Uni und das Studentenleben freut sich die junge Frau wahnsinnig. Sie hat ein WG-Zimmer gefunden, will sich ein Fahrrad kaufen und ist gerade auf der Suche nach einem Studentenjob. Nur mit ihrem Freund, der in Wien studiert, muss sie einstweilen eine Fernbeziehung führen.
Weiterhin viel Glück
wenn man nicht vorher (z. B.) eine Ladung Giftgas abbekommt?
Sorry, wenn jemand aus Syrien weg will, ist das etwas, was ich aus tiefstem Herzen verstehen kann. "Wir" wissen ja noch nicht mal, wie "wir" mit Assad umgehen wollen/ sollen/ müssen, der offenbar keine Skrupel hat, seine Landsleute je nach Gusto zu malträtieren, geschweige denn, dass D als Nation versucht, daran etwas zu ändern. Internationale Zwänge, muss man verstehen... zum Glück ist diese Betrachtungsweise auch keineswegs zynisch. Oder?