
Als Lisa (Name von der Redaktion geändert) vor einigen Jahren zum ersten Mal auf den Pferdehof von Sabine Väthjunker in Röttbach kam, setzte sich das Mädchen so weit wie möglich von den Tieren weg. Es hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Das heißt, Lisa tut sich schwer, mit anderen Menschen sozial zu interagieren und zu kommunizieren. Und sie neigt zu stereotypen Verhaltensweisen und Interessen.
Mit für sie ungewohnten Situationen, wie Lisa sie auf dem Pferdehof erlebte, tut sie sich schwer. Anfangs habe sie nur geschaut, was die Tiere machen, erinnert sich Sabine Väthjunker. Als Reittherapeutin bietet die 49-Jährige auf ihrem Hof heilpädagogisches Begleiten mit Pferden an. Das bedeutet, Klient und Pferd begegnen und interagieren unter ihrer Führung miteinander. Neben der Therapie bietet Väthjunker Ersterfahrungen mit, am und auf dem Pferd für jede Altersgruppe an.
Pferde spiegeln die Haltung eines Menschen wider
Lisa kam fortan einmal pro Woche. Mit jeder Therapiestunde habe sie sich den Tieren mehr genähert, sie gestreichelt, geputzt, ist mit ihnen spazieren gegangen und hat sie geritten. "Die vertrauensvolle Beziehung zwischen Lisa, dem Pferd und mir hat ihr Selbstsicherheit gegeben", so Väthjunker. Sie erklärt, warum Pferde die idealen Therapiebegleiter sind: "Sie legen keinen Wert auf Äußerlichkeiten, sondern spiegeln sehr gut die Haltung eines Menschen wider." Selbst wenn jemand im Gespräch der Therapeutin etwas verschweigt oder lügt: In der Interaktion mit dem Tier könne man sich nicht verstellen.

"Ein Pferd nimmt den Menschen völlig wertfrei an", erklärt sie. Das Tier würde wie ein Spiegel auf das Verhalten des Klienten reagieren. "Ist jemand sehr unruhig, trippelt auch das Pferd von einem auf das andere Bein", so die dreifache Mutter. Verhält sich das Pferd auffällig, fragt die Therapeutin gezielt beim Klienten nach Auffälligkeiten.
Ausgewogene Beziehung zwischen Klient, Therapeutin und Pferd
Wenn sie Fotos ihrer Pferde mit Klientinnen und Klienten zeigt, sieht man, dass die Tiere Vertrauen zu den Menschen haben. "Pferde sind Fluchttiere, die sofort zeigen, wenn ihnen etwas nicht passt." Sie vergleicht die Therapiearbeit mit einem gleichseitigen Dreieck: Es ist essentiell, dass die Beziehung zwischen Klienten, Therapeutin und Tier ausgewogen ist. Neben ihrer Ausbildung zur Reittherapeutin hat sie sich deshalb zur geprüften Trainerin im Sinne des Pferdes weitergebildet.
Und auch ihre Vierbeiner sind ausgebildete Therapiepferde. "Sie sind besonders geduldig, gutmütig und feinfühlig", so Väthjunker. Mit welchem Pferd ein Klient zusammenarbeitet, würden Mensch und Tier gleichermaßen bestimmen. "Ich binde meine Pferde nicht an, um mit ihnen zu arbeiten oder sie zu putzen. Sie dürfen sich frei bewegen", sagt die Therapeutin. Es zeige sich dann schnell, wer sich sympathisch ist.
Kontakt zum Pferd durch Sehen und Fühlen
Der Kontakt zu den Tieren des Hofs, neben den Pferden unter anderem auch Kaninchen, ein Hund und eine Wachtelfamilie, erfolgt auf unterschiedliche Weise. Manche Klienten beobachten die Tiere nur, andere streicheln das Fell oder liegen auf dem Rücken des Pferdes.
Kleinkinder, die zu Väthjunker kommen, sind meistens Frühchen, die sich schwertun bei der Entwicklung. Sie erklärt: "Ihnen fehlt für den Start ins Leben das gewohnte Schaukelgefühl, wenn sich der Mutterleib während der Schwangerschaft in alle Richtungen bewegt". Das sogenannte Nachnähren könne man zum Beispiel beim Schwimmen mit einem Delfin oder auf dem Rücken eines Pferdes erleben.

Pferde brauchen auch mal Verschnaufpausen vom Therapieren
Alle zwei Wochen kommt eine Gruppe Erwachsener mit Beeinträchtigungen, die teilweise im Rollstuhl sitzen. Sie dürfen die Wärme der Tiere spüren, vielleicht bei der Pflege helfen. "Jeder macht das, wobei er sich wohlfühlt", sagt Väthjunker. Sie sagt, sie habe so viele Anfragen, dass sie rund um die Uhr Therapiestunden anbieten könnte. "Doch auch die Pferde brauchen mal Verschnaufpausen", in denen sie geritten würden oder mit Menschen zusammen seien, die keine Belastungen mit sich herumtragen.
Väthjunker sagt, dass die Therapie keine Wunder bewirken könne. Die Defizite der Menschen würden nicht einfach verschwinden. Denn: "Wir Menschen sind keine Maschinen. Es gibt keinen Aus-Knopf, den man drücken könnte". Doch Lisa beispielsweise habe gelernt, mit den Beeinträchtigungen des Autismus' umzugehen und am Sozialleben teilzunehmen. Die Therapeutin ist stolz, dass Lisa jetzt etwas geschafft hat, was ihre Ärzte niemals für möglich gehalten hätten: erfolgreich ihren Schulabschluss zu absolvieren.