
Ein kleiner Junge kommt zur Reittherapie in Niederlauer bei Sandra Steinicke. Er kann es kaum erwarten, Lilly, sein Therapiepferd, zu begrüßen, das in der Reithalle schon auf ihn wartet. Zusammen mit Steinicke geht er zu der dunkelbraunen Stute mit dem bunten Zaumzeug und streichelt sie zur Begrüßung. In der Reithalle ist es ruhig, nur Patient und Therapeutin unterhalten sich leise und Lilly schnaubt ein wenig. Eine Athmosphäre zum Entspannen.
Beginn der Therapiestunde
Jede Therapiestunde folgt einem Ritual: Zu Anfang wird das Pferd erst einmal gestriegelt und gestreichelt. Dabei erklärt Steinicke ihrem Patienten die Reaktionen von Lilly, zum Beispiel als die Stute schnaubt. Sie mache das, weil sie sich wohl fühle. Dann fordert sie ihren Patienten auf, das Ohr an das Pferd zu legen und fragt ihn, was er hört. Ohne Scheu setzt er ihre Aufforderung um und lauscht den Geräuschen von Lillys Bauch. Dann untersucht der kleine Junge das Pferd genauer: Die Muskeln an der Brust, das Horn an der Innenseite des Beines und der Huf.
Sandra Steinicke sagt ihrem Patienten aber auch klar, wenn er etwas nicht darf. Zum Beispiel, als er sich für Lillys Bauch und ihr Euter interessiert. Das Pferd mag es nicht, wenn es dort angefasst wird, erklärt sie ihm. So lernt er spielerisch mit Lilly umzugehen.
Entspannen auf dem Pferdrücken
Nach dieser Begrüßung an Ort und Stelle, kommt Bewegung in die Therapie: Lilly wird von ihrem jungem Patienten einige Runden durch die Halle geführt. Dabei achtet Steinicke zum Beispiel darauf, dass er immer auf Kopfhöhe des Pferds läuft. Dann wird aufgesessen: An zwei Haltegriffen kann man sich festhalten, während die Stute weiter ihre Kreise dreht. Der junge Reiter auf Lillys Rücken kommt zur Ruhe, erst sitzt er noch, dann legt er sich sogar hin.

Auf dem Pferderücken entspannt der Junge derart, dass er die letzten beiden Male sogar eingeschlafen ist, erzählt Steinicke: "Das ist der Lilly-Zauber". Nach einer halben Stunde mit Lilly, heißt es langsam Abschiednehmen. Nur noch eine Abschlussrunde und dann: "Bis zum nächsten Mal".
Ganzheitliche Förderung der Patienten
Der nächste Lilly-Fan steht schon bereit. Er ist bereits länger dabei und darf traben üben. "Jeder Patient ist anders" erklärt Steinicke. Das bezieht sie einerseits auf die Erfahrung mit Pferden, andererseits auf die Persönlichkeit und den Gründen, warum jemand an der Pferdetherapie teilnimmt. Dementsprechend gestaltet sie die Stunden. Bei der Reittherapie sollen mit einer ganzheitlichen Förderung sowohl physische, zum Beispiel Grob-und Feinmotorik, als auch psychologische, wie das Steigern des Selbstwertgefühls, und soziale Bereiche, beispielsweise Förderung von Nähe, angesprochen werden.

"Für mich ist das Pferd der Hauptakteur. Es übernimmt die Hauptaufgabe. Ich bin nur Co-Therapeut und durch das Beobachten des Pferdes und des Patienten führe ich nur aus, was mir die beiden zeigen", sagt Steinicke. Die Therapiestunden seien für die Pferde richtig Arbeit, da sie die Emotionen der Menschen aufnehmen und sich auf jeden Patienten neu einstellen müssen.
"Ich habe ein Pferd oben stehen, wenn ich gestresst bin, da rennt der erstmal weg", beschreibt Steinicke die Fähigkeit der Pferde, Emotionen wahrzunehmen. Das Pferd sei das "Biofeedbackgerät" der Patienten. Das bedeutet, dass es die Stimmungslage des Patienten weitergibt.
Meditative Wirkung der Pferde
Die Zielgruppe für eine Pferdetherapie sind sowohl Kinder und Jugendliche, als auch Erwachsene, sagt Steinicke. Beispielsweise hat das Reiten bei ADHS-Kindern eine positive Auswirkung auf das Aufmerksamkeits- und Bewegungsverhalten. Durch den gerittenen Schritt, der eine fast meditative Wirkung hat, wird eine ausgleichende Wirkung erzielt, so die Therapeutin.
Bei Kindern mit Autismus wiederum könne eine Verbesserung von Wahrnehmung, Motorik, Kontaktaufnahme, Kommunikation und Sprachverhalten festgestellt werden. Es würden weniger Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Auch bei Burn-Out und Depressionen kann die Therapie helfen, da zum Beispiel Stress abgebaut wird oder die Patienten lernen, Grenzen zu setzen und ihre Durchsetzungsfähigkeit trainieren, erklärt Steinicke.
Krankenkassen und Übungen
Während der Therapiestunden achtet Steinicke zum Beispiel auf die Atmung, die tief und langsam sein soll. Außerdem weist sie auf den Blick ins Grüne. Auch fordert sie bisweilen dazu auf, die Augen zu schließen und auf die Geräusche in der Umgebung zu achten - der Wind in den Bäumen, Vogelzwitschern und Lilly. Situations- und patientenabhängig führt Sandra Steinicke Übungen durch. So soll man sich zum Beispiel ein Band vorstellen, das von der rechten Schulter zur linken Hüfte führt - das bewirkt, dass sich die Schulterpartie an- und entspann, erklärt die Therapeutin.
Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine Pferdetherapie nicht, sagt Steinicke. Nur in sehr seltenen Fällen übernehme die Pflegekasse oder das Jugendamt die Kosten. "Hier wird meines Erachtens an der falschen Stelle gespart", sagt Steinicke. Damit sich das ändert, sollten verstärkt die positiven Veränderungen der Patienten von den Reittherapeuten dokumentiert werden, so ihre Meinung.

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