zurück
Main-Spessart/Kemmern
Großprojekt der Deutschen Bahn auf einem privaten Grundstück: Warum auf Michael Dorschs Wiese jetzt Züge fahren
Für eine neue Bahnstrecke hat ein Unterfranke der Bahn ein Grundstück zur Verfügung gestellt - aber auf einen Kaufvertrag des Konzerns wartet er seit vier Jahren. Warum?
Über dieses Grundstück von Michael Dorsch im Landkreis Bamberg fahren jetzt Züge. Doch der Boden unter den Gleisen gehört immer noch dem Unterfranken und weiteren Erben.
Foto: Silvia Gralla | Über dieses Grundstück von Michael Dorsch im Landkreis Bamberg fahren jetzt Züge. Doch der Boden unter den Gleisen gehört immer noch dem Unterfranken und weiteren Erben.
Jonas Keck
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:53 Uhr

Michael Dorsch besitzt ein Grundstück, auf dem Züge fahren. Mit der Erlaubnis des Rentners aus dem Landkreis Main-Spessart hat die Deutsche Bahn (DB) auf dem ehemaligen Acker Gleise gebaut. Seit Jahren versucht Dorsch, das Grundstück an den Konzern zu verkaufen. Doch seit die Züge rollen, scheint die Bahn wenig Interesse an einem Vertragsabschluss zu haben.

Alles begann mit einem Schreiben im Briefkasten von Michael Dorsch. Im Oktober 2017 wendet sich das von der DB beauftragte Ingenieurbüro Angermeier aus Giebelstadt (Lkr. Würzburg) an Dorsch. Wie ihm "sicherlich aus den Medien bekannt" sei, baue ein Tochterunternehmen der DB an einer Eisenbahnstrecke von Nürnberg nach Berlin das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8 – "eines der bedeutendsten Verkehrsprojekte Deutschlands", wie es in dem Schreiben heißt. Es umfasst den Aus- und Neubau von Eisenbahnstrecken zwischen Nürnberg, Erfurt, Halle an der Saale, Leipzig und Berlin.

Dorschs Grundstück, das er zusammen mit anderen geerbt hat, liegt am Rande der Gemeinde Kemmern im oberfränkischen Landkreis Bamberg. Und es ist unfreiwilig zum Teil des Bauvorhabens geworden. Die Bahn brauche den Acker und will ihn bebauen, heißt es in dem Schreiben.

Bis heute aber ist kein Vertrag zustande gekommen. Warum, beantwortet der Konzern auf Anfrage dieser Redaktion nicht.

Bauerlaubnisvertrag statt Kaufvertrag von Ingenieurbüro angeboten

Tatsächlich trat Dorsch eigenen Angaben zufolge erstmals 2013 mit der Bahn in Kontakt, als die genaue Streckenführung bekannt wurde. Der 71-Jährige aus Unterfranken besitzt seit 1980 einen Anteil am Grundstück in Kemmern - eine 2350 Quadratmeter große grüne Wiese mit ein paar Büschen. Er habe nie gedacht, dass sich der Verkauf so lange hinziehen würde, sagt der 71-Jährige.

Ein Sachverständiger schätzt den Wert des Grundstücks auf gerade einmal 4700 Euro, geht aus dem Angebotsschreiben des Ingenieurbüros aus dem Jahr 2017 hervor. Doch einen Kaufvertrag bietet das Büro den Erben darin nicht an. Da die Fläche "zeitnah" benötigt werde, möchte die Bahn im Mai 2018 "bereits vor der notariellen Beurkundung des Kauf-/Dienstbarkeitsvertrags" einen sogenannten Bauerlaubnisvertrag vereinbaren. Der Vorteil für den Konzern: Die Bauarbeiten können sofort starten.

Dorsch und seinen Miterben macht das Ingenieurbüro den Bauerlaubnisvertrag mit jährlichen Zinsen auf den Grundstückwert schmackhaft: zwei Prozentpunkte über dem von der Deutschen Bundesbank festgesetzten Basiszinssatz. Dieser lag zum damaligen Zeitpunkt bei minus 0,88 Prozent.

Für die gesamte Erbengemeinschaft hätte dies rechnerisch im ersten Jahr bedeutet: 52,64 Euro.

"Wir haben nie verhandelt", sagt Dorsch rückblickend. Von der Erbengemeinschaft habe nie jemand Interesse an dem brachliegenden Land gehabt, alle hätten dem Bauerlaubnisvertag zugestimmt: "Wir wollten dem Bauvorhaben nicht im Weg stehen."

Im Frühjahr 2019 beginnen die Bauarbeiten bei Kemmern. Auf einem fünf Kilometer langen Abschnitt wird die bestehende zweigleisige Strecke zwischen Hallstadt und Zapfendorf auf vier Gleise erweitert. Auf den neuen Gleisen sollen der DB zufolge für ICEs Geschwindigkeiten von bis zu 230 Kilometer pro Stunde möglich sein – auch auf dem Grundstück, das noch immer Michael Dorsch und der Erbengemeinschaft gehört.

Manche der Erben sind zwischenzeitlich gestorben, neue Erben kamen nach. Einträge im Grundbuch mussten immer wieder geändert werden, sagt Dorsch, was Wartezeiten und Behördengänge mit sich gebracht habe. 18 Personen sind inzwischen an dem Grundstück beteiligt.

Anzeige für den Anbieter Flourish über den Consent-Anbieter verweigert

Er habe etliche Male bei der Bahn nachgefragt, wann und wie es hinsichtlich eines endgültigen Kaufvertrags weitergehe, sagt Dorsch. "Ohne irgendeinen Fortschritt", merkt er ernüchtert an. "Nach der Unterschrift unter dem Bauerlaubnisvertrag ging nicht mehr viel voran." Irgendwann ergreift er die Initiative und legt dem von der Bahn beauftragten Ingenieurbüro im Januar 2022 den Entwurf eines Kaufvertrags vor, den ein Notar ausgearbeitet hat.

Drei Jahre wird gebaut. Im April 2022 sieht die Deutsche Bahn dann Anlass zum Feiern: "Ein Jahr früher als geplant" sei der Bauabschnitt fertig geworden, teilt das Unternehmen in einer Pressemitteilung mit. Die Züge rollen. Anwohnerinnen und Anwohner der Bahnstrecke werden zum Grillfest eingeladen. Dorsch wartet noch immer auf einen Kaufvertrag.

"Der Vertrag ist an entscheidender Stelle äußerst ungenau und unsauber formuliert."
Rolf Kemper, Anwalt und Experte für Eisenbahn-Recht aus Berlin 

Auf Bitte der Redaktion hat Rechtsanwalt Rolf Kemper aus Berlin von der Arbeitsgemeinschaft Bau- und Immobilienrecht im Deutschen Anwaltverein, sich mit Dorschs Ärgernis befasst. Während das Infoschreiben des Ingenieurbüros von 2017 an mehreren Stellen eine Kaufabsicht zum Ausdruck zu bringen scheint, ist im unterzeichneten Bauerlaubnisvertrag davon keine Rede mehr. Aus dem Vertrag gehe nicht eindeutig hervor, dass die DB das Grundstück zu einem späteren Zeitpunkt kaufen will, sagt Kemper. Sollte die DB das Grundstück tatsächlich gar nicht kaufen wollen, hätte sie dem Anwalt zufolge die Entschädigungssumme von 4700 Euro plus Zinsen schon vor Jahren bezahlen müssen.

Rolf Kemper hat mehr als 20 Jahre Erfahrung im Eisenbahn- und Baurecht. Doch ein derartiges Angebot, sagt er, sei ihm noch nicht untergekommen. Das Urteil des Rechtsanwalts aus Berlin: "Der Vertrag ist an entscheidender Stelle äußerst ungenau und unsauber formuliert." In anderen Bereichen, zum Beispiel im Straßenrecht, könnten Eigentümer den Verkauf eines Grundstücks auch selbst beschleunigen, indem sie sogar gewollt die Enteignung herbeiführten.

"Einen Anspruch darauf geltend zu machen, ist im Eisenbahnrecht aber gar nicht vorgesehen", sagt Kemper. In juristischen Fachzeitschriften würden solche Konstellationen vereinzelt gelegentlich thematisiert. Ein richterliches Urteil in einem ähnlichen Fall ist dem erfahrenen Anwalt jedoch nicht bekannt.

Ingenieurbüro kündigt auf Nachfrage den Vertragsabschluss an

Der für das Großprojekt zuständige Mitarbeiter im Ingenieurbüro Angermeier versichert auf Anfrage dieser Redaktion nachdrücklich, dass die Deutsche Bahn das Grundstück noch kaufen wolle. Den Vorwurf der unsauberen Formulierungen weist der Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden möchte, zurück. "Bis Ende des Jahres, spätestens Anfang nächsten Jahres" könne Dorsch mit einer Beurkundung eines Kaufvertrags rechnen, sofern sich an der Zusammensetzung der Erbengemeinschaft nichts mehr ändere.

Der Vertragsentwurf liege aktuell bei der Deutschen Bahn, teilt das Ingenieurbüro mit: "Er ist nicht vergessen worden und ist auch nicht der letzte."

Michael Dorsch inmitten seines Grundstücks in Kemmern bei Bamberg.
Foto: Silvia Gralla | Michael Dorsch inmitten seines Grundstücks in Kemmern bei Bamberg.

Grundstücksbesitzer Michael Dorsch ist nicht der Einzige, der mit dem Vorgehen der Bahn unzufrieden ist. "Bei Grundstücksangelegenheiten arbeitet die Bahn äußert langsam", moniert auch Rüdiger Gerst. Als Bürgermeister von Kemmern erfährt er über die Notariate, wenn Flächen in seiner Gemeinde verkauft werden. Direkt in den Verkauf involviert ist die Gemeinde nicht. 

Aus Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern bekomme er aber mit, dass die bürokratischen Aspekte des Bauprojekts noch nicht abgeschlossen seien, sagt Gerst. Auch wenn die Züge längst fahren. Nach den Erfahrung in anderen Angelegenheiten sagt der Bürgermeister: "Verbindliche Aussagen von der Bahn zu bekommen und an den zuständigen Mitarbeiter zu kommen, ist sehr schwierig." Auch, weil Ansprechpartner häufig wechseln würden.

"Das Prozedere zieht sich sehr hin", sagt auch Sigrid Reinfelder, die Bürgermeisterin von Breitengüßbach, einer Nachbargemeinde von Kemmern. Die Bahn habe mit den Grundstückseigentümern die Absprache getroffen, dass die Verträge mit den privaten Besitzen zuerst abgeschlossen werden. Dann folgten die Gemeinden.

Deutsche Bahn äußert sich auf Anfrage nicht zu der Grundstücksangelegenheit

Auf Anfrage dieser Redaktion, wie viele Privatgrundstücke der Konzern für den Bauabschnitt "dauerhaft in Anspruch genommen" hat, wie es im baurechtlichen Jargon heißt, und wie viele Kaufverträge derzeit abgeschlossen wurden, schweigt das Unternehmen. Ein DB-Sprecher teilt nur mit, dass man sich "grundsätzlich zu Grundstücks- und Immobilienangelegenheiten nicht öffentlich" äußere. Auch die Frage, warum sich Grundstückseigentümer aus Sicht der DB auf einen Bauerlaubnisvertrag einlassen sollten, lässt der Konzernsprecher unbeantwortet.

Im Juni 2019 war von den Gleisen noch nicht viel zu sehen – von der ehemaligen Wiese der Erbengemeinschaft aber auch nicht mehr.
Foto: Bayerische Vermessungsverwaltung | Im Juni 2019 war von den Gleisen noch nicht viel zu sehen – von der ehemaligen Wiese der Erbengemeinschaft aber auch nicht mehr.

Dem Ingenieurbüro zufolge sind auf dem 12,5 Kilometer langen Abschnitt im Landkreis Bamberg rund 1100 Grundstücke von dem Großprojekt betroffen. Rund 20 Prozent der Grundstücke gehören dem Mitarbeiter zufolge derzeit offenbar noch nicht der Deutschen Bahn. Er führt die Bürokratie als Grund dafür an, warum es länger dauert Verträge abzuwickeln als Gleise zu bauen: "Jeder einzelne Vorgang nimmt extrem viel Zeit in Anspruch." Es sei nicht unüblich, dass vom Planfeststellungsverfahren bis zur Freigabe der Gelder mehrere Jahre vergehen würden. In Dorschs Fall habe die große Zahl an Miterben die Angelegenheit noch komplizierter gemacht.

Der 71-Jährige aus dem Landkreis Main-Spessart hofft, dass der Verkauf jetzt so schnell wie möglich über die Bühne geht. Er hat noch einen weiteren Anteil eines anderen Grundstücks im Landkreis Bamberg geerbt. Aber er wünscht sich, mit künftigen Bauprojekten der Deutschen Bahn – und mit Infrastruktur des Staates im Allgemeinen – nichts mehr zu tun zu haben.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Giebelstadt
Karlstadt
Marktheidenfeld
Gemünden
Lohr
Jonas Keck
Deutsche Bahn AG
Deutsche Bundesbank
Grundbücher
Ingenieurbüros
Kabeljau
Kaufverträge und Kaufvertragsrecht
Züge
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top
  • M. F.
    Das Geschäftsgebahren der Deutschen Bahn ist erbärmlich. Zukünftige Vertragspartner sollten stets auf schriftliche Verträge und ggf. rechtlichen Beistand bestehen.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten
  • E. S.
    Für mich als Laie hört sich das an wie "Arglistige Täuschung".
    Was sich dieses staatlich/private Unternehmen alles erlauben kann ist schon unverschämt.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten