
Sait Erbeks sehnlichster Wunsch: "Wir möchten irgendwo wohnen, wo wir für uns sind und ein Familienleben gestalten können." In der Karlstadter Notunterkunft ist das mit Frau und drei Kindern nicht möglich. Der 39-jährige Kurde ist trotzdem froh, in der Erwin-Ammann-Halle i Karlstadt untergekommen zu sein und in Sicherheit zu leben. Wer die Geschichte seiner Familie hört, versteht, warum es für sie überall besser sein muss als in der türkischen Heimat.
Geboren in Siirt im Südosten des Landes, wuchs Sait im weiter westlich gelegenen Denizli auf. Dort wurden auch seine drei Kinder geboren. Durch den tiefgreifenden Konflikt zwischen Türken und Kurden wurde die Lage im Land wirtschaftlich immer schlechter und durch die rechtspopulistisch orientierte Partei AKP auch immer nationalistischer.
"Schon in jungen Jahren litten darunter auch die Kinder von Sait", sagt Dolmetscher Halil, der Saits Aussagen im Gespräch mit dieser Redaktion übersetzt. Es sei in vielen Teilen des Landes ein Problem, wenn Kinder im Unterricht Kurdisch sprechen. Sohn Yasin (13) bezahlte dafür vor etwa einem Jahr in seiner Schule beinahe mit dem Leben.
Söhne mit Messer und Metallrohren verletzt
Sein Vater erinnert sich gut an den Tag: "Er wurde mit einem Messer verletzt und hätte verbluten können", erzählt er. Sein anderer Sohn, Ömer (12), wurde aus demselben Grund von einem Hilfslehrer mit Holzstöcken und Metallrohren verprügelt. Saits Jungs sitzen größtenteils schweigend neben ihrem Vater auf der Bank vor dem Karlstadter Ostfriedhof. Ab und an vervollständigen sie seine Erzählungen.
Nach den tätlichen Angriffen auf seine Söhne war für Sait das Maß endgültig voll. Gemeinsam entschied Familie Erbek, die Heimat zu verlassen. "Ein Onkel meiner Frau wohnt in Aalen und hat uns erzählt, dass es in Deutschland kein Kurdenproblem gibt und Menschenrechte dort noch geachtet werden", sagt Sait. Seiner Familie genügte das an Information, um die lange Reise ins Ungewisse anzutreten.

Was dann folgte, waren 18 Tage der psychischen Tortur. Aus ihrem Wohnort Denizli starteten sie nach Istanbul. Weiter ging es mit dem Flieger nach Sarajevo, die bosnische Hauptstadt. Hier begann die Fahrt mit einem Schlepper, der sie über Kroatien und Slowenien bis nach Italien brachte. "Auch in diesen Ländern haben wir Gewalt erlebt und wurden kurzzeitig inhaftiert. Wir wurden erst freigelassen nachdem wir gesagt haben, dass unser Ziel Deutschland ist", erklärt Sait. Kroatische Polizisten hätten ihm außerdem sein Handy abgenommen und es kaputt gemacht.
20.000 Euro für den Schlepper gezahlt
In Italien setzte der Schlepper sie ab. Für die Fahrt verlangte er 20.000 Euro – 4000 Euro für jedes Familienmitglied. Spätestens mit dieser Zahlung war klar, dass die fünf alles auf eine Karte setzen.
Zweieinhalb Wochen nach dem Aufbruch aus Denizli ging es mit dem Zug nach Karlsruhe, wo Sait einen Asylantrag stellte. Dann kam er mit Frau und Kindern für eine Woche nach Heidelberg, später ins Ankerzentrum nach Geldersheim und von dort aus schließlich nach Karlstadt.
Psychische Belastungsprobe für alle Betroffenen
Aus Halils Übersetzung wird deutlich, dass die Erbeks generell dankbar sind, in der Halle untergekommen zu sein. Doch eine langfristige Lösung ist das provisorische Wohnen mit etwa 130 Menschen auf engstem Raum für eine fünfköpfige Familie nicht. Die Ungewissheit, was die Bleibeperspektive betrifft, schlägt bei Sait aufs Gemüt. "Da es vielen in der Halle ähnlich geht, führt das auch zu einem aggressiveren Umgangston", sagt er.
Auch seine Kinder Esma, Yasin und Ömer hätten in letzter Zeit viel miteinander geschrien, und ihre Kommunikation sei immer aggressiver geworden. "Sie waren deprimiert, weil sie nicht in die Schule konnten. Auch meine Frau belastet das. Sie hat bald einen Termin beim Psychiater", meint Sait. Seine Frau Hediye sitzt währenddessen neben Tochter Esma und guckt mit betrübtem Blick Richtung Boden.
Ein Stück Normalität zurückholen
Anfang April dann die gute Nachricht: Der Helferkreis Karlstadt setzte durch, dass die Kinder aus der Unterkunft seit nach den Osterferien zur Schule gehen können. Seitdem besuchen Saits Tochter und die Söhne die Mittelschule Karlstadt. Aktuell werden sie an drei Tagen pro Woche betreut, bald sollen es fünf sein. In der Türkei mussten Yasin und Ömer am Ende gezwungen werden, in die Schule zu gehen. In Karlstadt sind sie überrascht von den netten Lehrern und davon, dass man im Unterricht höchstens ermahnt, aber keinesfalls geschlagen wird.

Die Schultage der Kinder geben Sait und seiner Frau ein Stück Entlastung. Auch für die beiden selbst hat sich arbeitstechnisch eine Perspektive ergeben. Über ein türkisches Reinigungsunternehmen kamen sie an einen Job. Aktuell putzen sie fünf Stunden täglich, während die Kinder in der Schule sind. "Wir sind gerade ganz zufrieden und dem Helferkreis und vor allem Sakine Azodanlou für ihre Hilfe sehr dankbar. Es kehrt ein Stück Normalität zurück", freut sich Sait.
Manchmal blitzt diese Normalität auch in Momenten durch, die sich in der Halle selbst abspielen. Drei andere Familien aus der Region rund um Denizli sind ebenfalls in der Notunterkunft. Sait: "Wir sind füreinander da, sprechen die gleiche Sprache und sind wie eine große Familie." Anders verhalte es sich aber mit einigen Männern aus anderen Ländern, die alleine nach Karlstadt gekommen sind. Manche von ihnen seien regelmäßig in Konflikte mit den Familien verwickelt.
"Sie sind abends oft lange laut und auf beiden Seiten unseres Familienbereichs liegen jeweils sechs dieser Männer. Das macht es mit dem Schlafen schwierig", erklärt Sait. Er sucht daher nach Möglichkeiten, eine Wohnung für sich und seine Familie zu finden. So könnten sich die Kinder, seine Frau und er nicht nur ihre Privatsphäre zurückholen, sondern auch versuchen, ein neues Familienleben aufzubauen.