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Lohr
Ein Leben zwischen Gleis und Gewürzen, Neu-Delhi und Lohr: Chandreshwar Gautam hat sich im Stadtbahnhof einen Traum erfüllt
Bei vielen Wirten läuft entweder das Restaurant gut oder das Familienleben. Gautam wollte beides und hat sich in dem ehemaligen Bahnhofsgebäude den perfekten Wohn-Arbeits-Ort eingerichtet.
Chandreshwar Gautam vor dem ehemaligen Stadtbahnhof, den er in zehn Jahren nach seinen Vorstellungen umgestaltet hat. 
Foto: Roland Pleier | Chandreshwar Gautam vor dem ehemaligen Stadtbahnhof, den er in zehn Jahren nach seinen Vorstellungen umgestaltet hat. 
Roland Pleier
 |  aktualisiert: 09.03.2024 02:43 Uhr

15 Meter vor dem Übergang hält sie an. Ein Mann klettert die vier Leitersproßen von der Diesellok herunter, stapft das Gleis entlang zur Schranke, entsperrt sie, kurbelt die beiden Schlagbäume synchron herunter, gibt dem Lokführer per Funk das Startsignal, lässt sie passieren und kurbelt die Schlagbäume nach seinem Funkstopp wieder hoch. Auf dem Weg zur Lok kontrolliert er die Verbindungen zwischen den vier Waggons. Dann zieht die Lok die Waggons mit Sand und den einen mit Soda weiter zur Glashütte, zu Gerresheimer. Drei Stunden später kommt der Kurzzug mit leeren Waggons wieder am einzigen manuell betriebenen Bahnübergang weit und breit zurück.

Chandreshwar Gautam kennt dieses Procedere. Er wohnt und arbeitet direkt daneben, im ehemaligen Stadtbahnhof. Wohnen direkt am Bahngleis – eine Horrorvorstellung? Mitnichten! Nicht hier am Lohrer Stadtbahnhof. Denn die Züge zur Glashütte sind die einzigen, die hier noch verkehren. Und das nur dreimal die Woche, Montag, Mittwoch und Freitag. Der ehemalige Stadtbahnhof wird nicht mehr gebraucht, seit die Bahnlinie Lohr - Wertheim eingestellt wurde. Da war Gautam grade mal zwei Jahre alt war. Der Betrieb zwischen Lohr Stadt und Lohr Bahnhof wurde eingestellt, als er drei war. Danach hat die Stadt den Bahnhof "Lohr Stadt" an verschiedene Gastronomen verpachtet, 2013 schließlich verkauft – an Gautam.

Familie oder Gaststätte: Gautam will beides

Für den gebürtigen Inder mit nepalesischen Eltern und deutschem Pass ist der alte Stadtbahnhof ein Glücksfall. Denn hier ist alles an einem Ort konzentriert, was ihm im Leben wichtig ist: seine Familie und seine Arbeit. "Alles in einem Paket", wie er sich ausdrückt. "Die meisten Gastronomen haben keine Familie", fährt er fort. "Entweder funktioniert die Familie - oder die Gaststätte." Er aber wollte beides.

Der Weg nach Lohr im Zeitraffer: Nach drei Jahren Kochlehre in Neu-Delhi arbeitete er dort vier Jahre in Anstellung, vier weitere in Würzburger Restaurants. 2002 eröffnet er seinen eigenen Asia-Imbis in Gemünden, 2006 zieht er damit um nach Lohr in die Lohrtorstraße. Dann kam die Station Stadtbahnhof. Die Endstation? Gut möglich. Denn Gautam baute den Bahnhof nach seinen Vorstellungen und seinen Bedürfnissen zum "India Palace" um. Harte Arbeit. "Ich spüre heute noch die Knochen."

Auf dem Bahnsteig steht jetzt der Kühlraum

Die Toiletten im südlichen Anbau verbannt er in einen kleinen Anbau neben der Eingangstür an der Ostseite. Damit schafft er mehr Platz im Gastraum. Die jetzt verlängerte Theke macht sich in der früheren Bahnhofshalle breit. Daneben, im ehemaligen Warteraum, das Herz des Restaurants, die Küche. Gautam hat auch diese so auf sich zugeschnitten, dass er sich nur umzudrehen braucht, um alles im Griff zu haben. Erst 2022 hat er sie erweitert, die Dunstabzugshaube vergrößert, das Entlüftungssystem über einen Außenkamin aufgemotzt. "Vorher hab ich wie in einem Gefängnis gekocht."

Die Schranke direkt neben dem Restaurant ist die einzige weit und breit, die noch per Handkurbel bedient wird – für drei Fahrten (jeweils hin und zurück) in der Woche.
Foto: Roland Pleier | Die Schranke direkt neben dem Restaurant ist die einzige weit und breit, die noch per Handkurbel bedient wird – für drei Fahrten (jeweils hin und zurück) in der Woche.

Die ehemalige Plattform zum Gleis hin hat er mit drei geräumigen, externen Kühlräumen zugestellt. Die Treppe zu dem einen Kellerraum war ihm zu eng. Auch im Norden, zum überdachten Biergarten neben der Kastanie hin, hat er angestückelt: Für ein Lager und das Fenster zum Straßenverkauf, ohne den er wirtschaftlich nicht überleben würde.

Das Dachgeschoss wird für die Kinder vergrößert

"Inzwischen bin ich Handwerker", grinst er. "Kann gut schrauben, Fliesen legen, Holzverkleidung spielerisch anbringen ...". Mit schwachen Nerven, so fasst er zusammen, "wäre hier viel untergegangen". Mit dem Kaufpreis habe er in den zehn Jahren bestimmt eine Million Euro in das Gebäude investiert. Dabei ist er noch gar nicht am Ende: In der rund 90 Quadratmeter großen Wohnung ist es eng geworden. Derzeit baut er für die Kinder das Dachgeschoss aus, damit Bishwas (13), Avi (10) und Aastha (8) mehr Platz haben. Den früheren Kühlraum im Keller will er zum Musikzimmer umbauen für seine Kinder. "Alle drei sind musikalisch", sagt Gautam.

Musikalisch wie er selbst. "Ich liebe, was ich habe", sagt er überzeugend, wird dann aber doch für einen Moment ein bisschen wehmütig. "Mein Traum war ein anderer", gesteht er, der in seinem Geburtsort Neu-Delhi Harmonium spielte und dazu sang. Eigentlich, so blickt er zurück, sei er mit einem Arbeitsvisum für drei Jahre nach Deutschland gekommen, um hier Geld für seiner Musikerkarriere zu verdienen.

Vom Antrag zur Hochzeit in vier Tagen

Doch es kam anders. Er blieb länger. 2007 besuchte er Verwandte in Nepal, wo seine Eltern herkamen. Eine Woche war geplant. Es wurden zwei. Denn dort lernte er Tulasi Neupane kennen. Es war ein Montag, lächelt er. "Willst Du mich heiraten", fragte er sie. Er müsse mit ihren Eltern reden, so ihre Antwort. "Kein Problem", sagt er, "das kriegen wir hin". Die Eltern sagten ja. Am Freitag, vier Tage später, war Hochzeit. Gautam verlängerte um eine zweite Woche. Bis auch seine Frau nach Lohr kam, dauerte es allerdings zwei Jahre.

Die Beschriftung am Bahnhof 'Lohr Stadt' bleibt, auch der 'Warteraum' verweist noch auf die Vergangenheit.
Foto: Roland Pleier | Die Beschriftung am Bahnhof "Lohr Stadt" bleibt, auch der "Warteraum" verweist noch auf die Vergangenheit.

Das verrät viel über Gautam: über seinen Mut zum Risiko, seine Entschlossenheit, seine Ausdauer und seine Freundlichkeit. "Damit gehen die Türen viel leichter auf." Dass er Chancen nutzt, wie der Bahnhof eine war. "Wir wollten eigentlich von Lohr weg", blickt er zurück. "Wir hatten uns im Raum Frankfurt elf Restaurants angeguckt." Bis ihm ein Lohrer Gastro-Kollege den entscheidenden Tipp gab.

Lohr ist zur Heimat geworden

Die drei Chili-Stauden im winzigen Gartenzipfel sind aus Nepal - wie Tulasi Neupane, die ihren Pass noch behalten hat, da sie in ihrer Heimat noch Grundstücke besitzt. Gautam hat seinen indischen 2016 gegen den deutschen eingetauscht. Zwar achtet er als Hindu "bestimmte Sachen", isst zum Beispiel kein Rindfleisch (ein Drittel seiner Speisen sind vegetarisch) und schneidet er dienstags keine Haare ("das wäre unheilig"). In seiner Heimat aber wartet kaum noch jemand auf ihn: Einige sind gestorben, andere leben in einem anderen Land. "Mittlerweile", sagt er, "fühle ich hier meine Heimat."

Zehn Menschen beschäftigt Gautam in Küche und Service. Auch seine Frau putzt, kocht, würzt. "Mein Personal ist einmalig", schwärmt er. "Richtig gut. Sie kommen. Haben Spaß. Jeder macht alles." Mit einer Ausnahme: Kochen ist Chefsache.

"Der liebe Gott hat mir sehr gesunde Hände und einen gesunden Kopf gegeben. Das reicht mir", sagt der Mann, der sein wahres Alter nicht in der Zeitung veröffentlicht wissen will. Er kokettiert gern damit. Wie er es schafft, jünger geschätzt zu werden, als er ist? "Ich arbeite so viel", verrät er sein Geheimnis. "Da hab ich keine Zeit, alt zu werden."

Gautam ist erkennbar stolz auf das, was er geschaffen hat. "Ich hab alles in Griff gekriegt, mit den eigenen Händen", holt er aus. Nur eines schafft ihn: Die beiden Behälter hinter der Tuja-Hecke. "Die Glas-Container sind ein Horror", klagt er. Mitten in der Nacht sind es auch gastronomische Kollegen, die Flaschen einwerfen, frühmorgens Hundebesitzer beim Gassigehen. "Wenn irgendwo ein Glas fällt, spring ich auf und schreie", schildert er sein Trauma. Vom Scheppern einmal geweckt "bin ich wach und kann nicht mehr schlafen". Dagegen sind die wenigen Züge, die am alten Bahnhof vorbeirollen, schon fast eine Wohltat.

 
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