
Wie findet man heraus, was wirklich wichtig ist? Worauf es ankommt im Leben? Und welche Werte sind heute besonders zentral? Tilman Schneider, stellvertretender Dekan des evangelischen Dekanats Würzburg, hält den Begriff "Werte" für inflationär verwendet - und viel zu wenig greifbar.
Ein Gespräch über Worte, die keine Mogelpackung sind, Nächstenliebe - und Haltung.
Tilman Schneider: Werte sind in aller Munde. Im politischen Raum wird ständig von Grundwerten gesprochen, von einer Werteordnung oder einer Wertegemeinschaft. Die Kirchen sprechen von Werten, unsere Kultusministerin auch. Menschen jammern über Werteverfall oder wünschen sich Werte. Mein Eindruck ist: Es bleibt doch sehr abstrakt, was ein Wert ist. Ich beobachte ein inflationäres Wertegerede. Ich fürchte, der Begriff ist eine Mogelpackung. Werte scheinen viel zu versprechen, bewirken aber letztlich wenig.
Schneider: Ursprünglich kommt der Wertbegriff aus der ökonomischen Sprache und taucht erst viel später in ethischen Debatten auf. Es stört mich, wenn wir mit ökonomischer Sprache in den Bereich der Beziehungen und des Zwischenmenschlichen gehen. Wir sagen doch kaum "Du bist wertvoll", sondern eher "Ich habe dich lieb" oder "Den kann ich gut leiden". Da hört man auch, dass Liebe etwas mit Leiden zu tun hat. Lieben und Leiden können – das sind Wortfelder, mit denen wir rauskommen aus der ökonomischen Sprache.
Schneider: Sie, Herr Knahn, hatten in unserer Unterhaltung die Nächstenliebe als Wert bezeichnet, für den die Kirche steht. Das hatte mich überrascht. Und das gefällt mir! Ich würde allerdings den Begriff der Haltung bevorzugen. Die Bibel spricht von der Nächstenliebe als Haltung und macht das sehr konkret. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist bekannt: Jesus wird gefragt, wie man ein guter Mensch sein kann und wer überhaupt unser Nächster ist. Jesus antwortet mit einer Geschichte: Ein Mensch wird überfallen, missbraucht, ausgeraubt und liegt dann da. Zuerst kommt ein Priester vorbei, dann ein Levit. Sie gehen weiter. Beide kommen oft schlecht weg, aber vielleicht sind sie gar nicht imstande zu helfen oder sie werden anderswo gebraucht. Danach ist es ausgerechnet der Samariter, ein unerwünschter Fremder, der hilft und sich um den Überfallenen kümmert. Er lässt sich anrühren. Er hat eine Haltung der Liebe, die zur Handlung wird.
Schneider: Naja, der Wertebegriff ist einfach furchtbar leer. Er hilft nicht weiter.
Schneider: Ich habe das Gefühl, die Kirchen sehen bei der Wertediskussion einen Raum, in dem uns die Gesellschaft noch etwas zutraut. Da klammern wir uns dran, anstatt von Sachen zu reden, die uns als Kirche ureigener sind.
Schneider: Die Nächstenliebe salonfähig machen - das wäre unser kirchlicher Auftrag. Von der Liebe erzählen, von der Liebe als Haltung, die eingeübt und zur Handlung werden kann.

Schneider: Es ist wenig überraschend, wenn ich als Christ sage, dass der Glaube das höchste Gut ist für mich. Wir haben über die Liebe als Haltung gesprochen, und die kommt ja nicht einfach so. Als Christ erfahre ich mich als von Gott geliebt und anerkannt. So kann ich auf meine eigene Person liebevoll blicken und mit mir im Reinen sein. Ich kann mit mir selbst einverstanden sein, staunen und dankbar sein über die Möglichkeiten. Mit diesem liebevollen Blick auf mein Leben kann ich auch mit meinen Fehlern, mit meinem Scheitern umgehen. Und wenn ich das mit mir kann, kann ich das ja auch mit meinem Mitmenschen. Glaube und Gottesliebe münden in einer Selbstliebe und in einer Nächstenliebe.
Schneider: Es kommt in den letzten Jahren öfter vor, dass Menschen die Weltlage nur noch schwer ertragen. Wir als Kirche bieten den Raum, wo das auch gesagt werden kann. In einer Welt, in der Schwächen oft überspielt und Leiden verdrängt wird, haben wir diesen seelsorgerlichen Raum. Jeder kann hier aussprechen, was ihn besorgt und belastet. Zuhören ist auch eine Haltung der Liebe.
Schneider: Besonders in Taufgesprächen erlebe ich, dass Eltern sich fragen, in was für eine Welt sie ihr Kind setzen. Das sind Themen, die in dieser Form vor fünf oder sechs Jahren nicht so vorkamen, jetzt aber regelmäßig. Junge Eltern blicken besorgter in die Zukunft.
Schneider: Es gibt nicht das Rezept. Aber Zuhören, einen Raum öffnen, in dem Menschen vertraulich erzählen dürfen, was sie besorgt und ihnen schwer auf der Seele liegt – das ist ein Weg. Und dann wären wir wieder bei der Liebe Gottes, bei unseren Gottesdiensten und den Ritualen: Wenn wir eine Taufe feiern und der Zuspruch erklingt, dass du ein geliebtes Kind Gottes bist, dann ist das ein Anker, an dem man sich halten kann. Die Liebe Gottes gibt Kraft und einen Halt, der unkaputtbar ist.
Schneider: Eine junge Mutter hat zu mir im Taufgespräch gesagt: "Wenn ich mich so umgucke, bin ich die Einzige, die gar nichts hinkriegt." Ich denke, sie hat sich blenden lassen von dem, was sie sieht, was Freunde angeblich alles hinkriegen und machen. Ich fand das sehr ehrlich und vertrauensvoll. In der Werte-Debatte sehe ich diese große Sehnsucht nach Halt und Orientierung, die Sehnsucht nach gelingendem Leben. Vielleicht brauchen Menschen derzeit einfache Handlungsanweisungen, vielleicht boomt deshalb die ganze Ratgeberliteratur. Wir Christen haben die Zehn Gebote anzubieten. Die jüdisch-christliche Tradition spricht von Geboten. Die Juden sprechen von Weisungen, was nicht mehr so streng, sondern sehr verheißungsvoll klingt: Halte dich an die Weisungen und dein Leben wird gelingen.
Schneider: Ich denke, man muss sie in den Kontext übersetzen, aber am Ende laufen sie im höchsten Gebot zusammen: Du sollst Gott lieben - und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn ich liebevoll mit mir selbst bin, bin ich es auch mit anderen. Der Religionsphilosoph Martin Buber übersetzt das Gebot aus dem Hebräischen mit einer anderen Nuance: Du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist wie du. Das hätten wir doch so nötig. Das ist ja auch ein Problem unserer Zeit, dass immer alles weg muss. Trump muss weg, die AfD muss weg, die Ampel muss weg. Aber wie nähere ich mich dem anderen? Ich denke da nochmal an das Gleichnis mit dem barmherzigen Samariter . . .
Schneider: Ausgerechnet der, von dem ich es am wenigsten erwarte, lässt die Liebe walten. Wenn Jesus das Gleichnis heute erzählen würde, dann hilft der Migrant dem AfD-Politiker, der da irgendwie unter die Räuber gefallen ist, oder Donald Trump hilft dem überfallenen Fremden. Das wäre vielleicht die moderne Version des Samaritergleichnisses. Das ist schön und humorvoll an diesem Gleichnis, dass Jesus provoziert, diese Hiebe nach links und rechts gibt und unsere Lieblosigkeit aufdeckt.
Schneider: Wir feiern an diesem Wochenende Ostern und die Auferstehung. Krisen und Leiden, Traurigkeit und Tod werden durch die Liebe Gottes besiegt. Neuanfänge sind möglich. Das ist die Hoffnung!
Mit meinen Macken und Fehlern möchte ich nicht länger „liiert bleiben“, - mein Herr Jesus Christus gibt mir „seine“ Kraft das zu verändern.
Lieber Herr Schneider ohne den Tausch am Kreuz gibt es keine Veränderung und kein neues Leben. Wir brauchen Botschafter an Jesu statt, die diese Veränderung und einen Neuanfang erlebt haben!
Lieber Gruß
Mit Mitte 30 habe ich auch noch geglaubt, dass Haltung, Wahrheitspflicht und "Glauben" an das gute im Menschen Positives erzeugen kann.
Rund 20 Jahre später und aufgrund der inm "christlichen" CSU-Würzburg und mit dem hier vorwiegend institutionalisierten Menschenbild gemachten Erfahrungen weiß ich allerdings, dass dies eine naive Illusion ist.
Hier zählt Status, Macht, Geklüngel. Berechtigte Kritik wird als Majestätsbeleidigung angeprangert.
Schein und Fassade sind alles, autoritär-hierarchische Strukturen nutzen die Abhängigkeiten und Schlichtheit von Menschen, um ihre Macht zu wahren, die Opfer bleiben auf der Strecke.
Nicht was gesagt wird zählt, sondern wer etwas sagt. Nicht Fakten zählen sondern Position und Status.
Der Verweis auf irgendeinen lieben "Gott" ist magisches Denken -je eher die Menschen begreifen, dass sie selbst verantwortlich für ihr Handeln sind, desto besser für alle!