
"Rote Lippen soll man küssen, denn zum Küssen sind sie da!" An diesem Evergreen von Cliff Richard von 1964 fand damals niemand etwas anstößig, man fand es einfach romantisch, schön, ein Lied das den Menschen seiner Zeit unter die Haut ging. Rocco Granada traf ebenfalls mit "Marina, du bist ja die Schönste der Welt" den Nerv seiner Zeit und als Manuela versicherte, "Schuld war nur der Bossa Nova" oder Gitte Haenning einen "Cowboy als Mann" forderte, juckte es den Zuhörern sichtlich in den Beinen.
Doch die Lieder der Zeit vor dem Rock und Heavy Metal waren nicht nur schnulzig, auch fetzige Titel rissen das Publikum damals mit: Da gab es "Let's Have A Party" von Wanda Jackson, Little Evas "Loco-motion", die Beach Boys mit "Barbara Ann" und schließlich King Elvis mit "Blue Suede Shoes". Zu einer musikalischen Reise in die Vergangenheit hatte die Gruppe "Die Bullis" am Tenniszentrum in Wiesenfeld eingeladen.

Für manche Jüngere galt: Erst Techno, dann Oldies
Am frühen Abend waren 80 Prozent der rund 250 Besucher deutlich sichtbar im Rentenalter, aber zu vorgerückter Stunde fanden schließlich noch viele junge Leute den Weg von der Gemündener Tanzinsel nach Wiesenfeld zum Konzert der "Bullis". Und die meisten von ihnen brauchten nicht lange, um sich in die Lieder aus den 60er-Jahren hineinzufühlen und sich von diesem Groove aus der Zeit ihrer Großeltern erfassen zu lassen. Tatsächlich füllte sich dann der Platz vor der mobilen Bühne des alten Bulli-Transporters mit ausgelassenen jungen Tanzbegeisterten. Leider nur bis etwa Mitternacht, als dann ein einsetzendes Gewitter dem Konzert ein jähes Ende setzte.
Gleich zwei Ereignisse standen im Mittelpunkt des Wiesenfelder Abends am Tennisplatz. Da war einmal der can-cup, ein jährliches sportliches Treffen zum Gedenken an drei junge 20-jährige Frauen, die im Januar 2004 tödlich verunglückt waren. Seitdem wollen die Sportfreunde die Erinnerung erhalten und an andere weitergeben. So entstand die Idee eines can-cup als ein Beachvolleyball- und Tennisturnier. Namensgeber waren die Anfangsbuchstaben der Verunglückten: Christina, Andrea und Nina. Neben der Sportbegeisterung der Verstorbenen soll aber auch deren Freude am Leben, an Partys und an der Gemeinschaft weiter erhalten bleiben. Deshalb gibt es in jedem Jahr neben dem Sport auch fröhliche Musik und Tanz.
Vier Kilo schwere Mikrofone
Diesen Part übernahmen heuer "Die Bullis", eine ganz ungewöhnliche Formation aus Wiesenfeld mit sechs Mitgliedern. Raimund Eirich, Tina Rüppel, Harry Schuhmann, Ramona Dittmaier, Max Kehrer und Christian Sammeth spielen Musik, die älter ist als sie selbst und die sie selbst bestenfalls im Kinderwagen oder von den Plattenspielern ihrer Eltern gehört hatten. Die Songs stammen aus den 50er und 60er-Jahren, genauso wie das Equipment, die Gitarren, das Akkordeon und die Verstärker. Sogar die Mikrofone sind über sechs Jahrzehnte alt und rund vier Kilo schwer. Alt ist auch der Namensgeber der Band: der Bulli – ein VW-Transporter T3 mit Pritsche, der als Beförderungsvehikel und vor Ort auch als Bühne dient.

Was aber ist das Besondere an den "Bullis"? Für ihre Fans und für die rund 250 Menschen an der Tennishalle brachte Wiltraud Taupp die Faszination auf den Punkt: "Ich liebe diese Musik, sie wird niemals alt und macht mir heute noch Gänsehaut!", sagte sie. Taupp ist 1947 geboren und mit den Schlagern aufgewachsen. Die mehrfache Großmutter verbindet heute noch Erinnerungen an ihre Lehrzeit und an Urlaubsgefühle damit.
Songauswahl weckt nostalgische Gefühle
Taupps Nachbarin Vera Borst verbindet mit diesen Klängen ihre eigene Jugend, das erste selbstständige Ausgehen, erste Bekanntschaften und die Liebe. "Die Musik damals war echt, mit guten Gefühlen, nicht so digital und mechanisch wie heute", meint sie. Da bestimmten Menschen die Lieder und nicht wummernde Bässe oder synthetische Effekte. Einfach nur Emotionen pur. Ein Ehepaar war aus Lohr angereist und lauschte fast schon im Verborgenen dem Konzert – ein Gruß aus ihrer Jugendzeit!
Dass die Musik der 60er nicht nur älteres Publikum anspricht, belegen schließlich schon die "Bullis" selbst. Die Sängerin Tina Rüppel liebt den Swing, die Rhythmen und die damit vermittelte Romantik. Ramona Dittmaier schwärmt von dem Charme und von schönen, gefühlvollen Texten, die bei ihr besondere Emotionen wecken. Sie identifiziert sich so intensiv mit diesen Liedern, dass ihr sogar bei dem Schlager "Ramona" die italienischen Passagen wie original von den Lippen kommen.

Bei den jetzigen Twens stößt die Musik der "Bullis" natürlich auch auf weniger Zuspruch. Besonders junge Männer vermissen den Beat, den dominanten Bass und die digitalen Effekte. Doch als sich dann zu späterer Stunde die "Oldies" zurückgezogen und die Jugend die Oberhand übernommen hatten, ließen auch die sich von den Songs der Vergangenheit erfassen, die Rhythmen packten sie und es wurde einmal mehr deutlich: "Diese Musik wird niemals alt!"