Vor 40 Jahren, im Frühjahr 1979, erschien der „Spiegel“ mit einem Aufsehen erregenden Titelbild: Dort prangte das leicht unscharfe Foto eines eleganten älteren Herrn und dazu die Überschrift: „DDR-Geheimdienstchef enttarnt – Die Spione des Markus Wolf“. Es war der (eher zufällige) Anfang vom Ende des Mythos um den „James Bond des Ostens“– dank eines Landtagsabgeordneten aus Unterfranken, der (ungewollt) ein großes Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte im Kalten Krieg mitgeschrieben hatte.
Ein Treffen unter dem Deckname "Becker"
Das Foto war mehrere Monate zuvor in Stockholm entstanden, bei einem heimlich observierten Geheimtreffen, das letzte Zweifel beiseite wischte: Der unterfränkische SPD-Landtagsabgeordnete Fritz Cremer aus Lengfurt im Landkreis Main-Spessart hatte unter dem Decknamen "Becker" Informationen an die DDR-Staatssicherheit geliefert - zum Teil an den Chef höchstpersönlich.
Das Bild ist ein historisches Dokument: Denn bis dahin war das Gesicht des Chefs der DDR-Spione nicht bekannt. Fritz Cremer war Anfang 1979 wegen des Verdachts der Spionagetätigkeit für die DDR festgenommen worden. Doch zunächst ahnte niemand, von welchem Kaliber der Mann war, den schwedische Beschatter mit Cremer in Stockholm einige Monate zuvor fotografiert hatten.
Erst nach Monaten identifiziert
Erst der DDR-Überläufer Werner Stiller, ein Mitarbeiter der Stasi, identifizierte seinen obersten Chef, als man ihm Bilder von dem geheimen Treffen zeigte. Die Spionageabwehr beschloss, das Foto gegen Wolf zu benutzen und liefert es samt einer detailreichen Geschichte dem Hamburger Magazin für eine Titelgeschichte. Die sollte ihre Wirkung nicht verfehlen: Von da an war das Gesicht des DDR-Chefspions bekannt, die Reisen zum Klassenfeind im Westen hatten ein Ende.
Inzwischen hat die schwedische Abwehr die Bilder von dem Geheimtreffen sowie einen Teil der Observationsprotokolle für die zeitgeschichtliche Forschung freigegeben. Die Fotos zeigen den unterfränkischen Politiker im Gespräch mit dem Stasi-Mitarbeiter und so banale Szenen wie Wolf und seine Frau beim Spaziergang, im Garten, beim Besteigen eines Volvos. Auch die Protokolle bezeugen das Treffen, ein Abendessen und die Spione auf Einkaufstour.
Spioniert oder abgeschöpft?
Es sind Dokumente der Verwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis. Sie setzen klare Fakten gegen die Legende, die der angesehene Politiker Cremer Zeit seines Lebens in Unterfranken über das Treffen strickte.
Er habe nicht für die Stasi spioniert, sondern sei "abgeschöpft" worden, behauptete Cremer noch 2002 im Gespräch mit dieser Redaktion- nachdem er wegen Spionage für die DDR angeklagt und rechtskräftig verurteilt worden war. Den ganzen Umfang seiner Tätigkeit hatten erst nach 1990 Forscher wie der Politikwissenschaftler Helmut Müller-Enbergs offenbart, als sie die erhalten gebliebenen Unterlagen der Stasi analysierten.
In Unterfranken genoss der sozial engagierte Arzt Fritz Cremer den Ruf als renommierter SPD-Politiker. Er hatte sich 1945 in Triefenstein-Lengfurt (Lkr. Main-Spessart) niedergelassen. 1966 wurde der engagierte Kommunalpolitiker in den bayerischen Landtag gewählt, dazu kamen Funktionen in Kreis- und Bezirkstag. Für seine Partei leitete er die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen in Bayern.
Zwar gab es viel Rumoren in der Partei, als das Treffen mit dem DDR-Spion aufflog und Cremer vor Gericht gestellt wurde. Aber als er mit 91 Jahren am 22. September 2010 in Triefenstein starb, würdigte ihn seine Partei als "aufrechten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit".
Selbst noch nach dem Untergang der DDR schützte Wolf seinen Agenten. Der Spionagechef sagte 1993 vor Gericht, bei dem Treffen mit Cremer 1978 in Stockholm habe es sich um einen "Meinungsaustausch" gehandelt. Cremer sei für ihn "einer meiner interessanten und politisch aufgeschlossenen Gesprächspartner in der Bundesrepublik" gewesen. Cremer erinnerte sich noch 24 Jahre später, dass Wolfs Gattin zu der über einstündigen Unterhaltung Häppchen und eine Tasse Tee gereicht hatte.
"Waren Sie ein Spion der Stasi?" fragte ihn diese Redaktion 2002 bei einem Besuch in seinem Haus in Lengfurt. Von Cremer kam auch da ein klares "Nein". Er sei damals in Stockholm "da tölpelhaft reingestolpert" durch seine Art, offen mit allen möglichen Mitmenschen auch über Vertrauliches zu sprechen. Er sei betrogen worden von einem mysteriösen langjährigen Bekannten aus dem Osten, sei ohne eigenes Zutun von der Stasi abgeschöpft worden. "Ich habe nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, wie das damals ja wohl üblich war", äußerte Cremer den Reportern gegenüber.
Indes wiesen Experten wie Müller-Enbergs darauf hin: Es hatte hunderte von Stasi-Mitarbeitern im Westen gegeben, die auch ohne schriftliche Verpflichtung für Markus Wolf spionierten. Cremer blieb im Gespräch in seinem Lengfurter Haus bei dem, was er nach seiner Verhaftung im Januar 1979 vor Gericht ausgesagt hatte: "Ich habe nichts geliefert."
Mit falschen Pässen eingereist
Im Juni 1978 hatte Geheimdienstchef Markus Wolf bei dem Treffen mit Cremer in Stockholm offenbar das angenehme mit dem nützlichen verbunden: Laut dem Observationsbericht kaufte er dort mit seiner neuen Ehefrau Teile der Wohnungseinrichtung, ging auf Sightseeing-Tour und besuchte einen Klub.
Die Wolfs und ein hochrangiger Mitarbeiter waren mit falschen Pässen nach Schweden eingereist, als Ehepaar Kurt und Christa Werner sowie Kurt Lenkeit, wie den Unterlagen des schwedischen Geheimdienstes zu entnehmen ist. Das überwachte Besuchsprogramm umfasste touristische Punkte wie eine Überlandfahrt nach Uppsala, die Universität, Schloss Gripsholm und das Grab von Kurt Tucholsky.
Friedrich Cremer und seine Freundin waren am 29. Juni 1978 in Stockholm mit einem Flug aus München eingetroffen und im Hotel Sheraton untergekommen. Cremer wurde zu Wolf gebracht, wo in einer Wohnung das stattfand, was beide später vor Gericht als "Gedankenaustausch" bezeichneten.
Kontakt geduldig aufgebaut
Doch die Stasi hatte den Kontakt offenbar geplant und geduldig seit 1974 aufgebaut. Der Politikwissenschaftler Helmut Müller Enbergs, Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen,beurteilt den Fall so: Cremer sei einer von drei Zulieferern der Stasi im Westen gewesen, die dem Spionagechef der DDR wichtig genug waren, um sie persönlich zu betreuen –auch wenn Cremer das später leugnete. „Dass er ein bedeutenderer Spitzel als Kanzleramtsspion Günther Guilleaume war, belegen heute die wissenschaftlich aufgearbeiteten Akten aus der Hinterlassenschaft der Stasi,“ schrieb Müller-Enbergs 2014 in einem Gastbeitrag für diese Redaktion.
Im Prozess vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht in München beteuerte Cremer dann als Angeklagter 1980 immer wieder seine Unschuld. Viel mehr als das (aus damaliger Sicht als Delikt allerdings völlig ausreichende) Treffen mit Spitzenleuten der Staatssicherheit war ihm damals nicht nachzuweisen. Cremer, vom früheren Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) verteidigt, kassierte lediglich eine zweieinhalbjährige Freiheitsstrafe, weil er zwischen 1974 und 1978 Kontakte nach Ostberlin gehabt hatte. Die Revision 1981 blieb erfolglos. Aber nach 14 Monaten begnadigte ihn Bundespräsident Karl Carstens.
Material seit 1969 geliefert
Aber auch, wenn es Cremer später im Gespräch in seinem Wohnzimmer unter dem Bild von Che Guevara bestritt: Es war um weit mehr gegangen als nur um einen Plausch mit dem DDR-Spionagechef. Akten der Staatssicherheit belegen: Der Inoffizielle Mitarbeiter (IM) "Becker" lieferte schon seit 1969, dem Jahr der Regierungsübernahme der sozial-liberalen Koalition, eine Fülle immer besseren Materials über das Innenleben der SPD. Reihenweise schickte "Becker" Informationen aus dem Umfeld des damaligen fränkischen SPD-Chefs Bruno Friedrich nach Ost-Berlin. Friedrich wiederum war ein Vertrauter Herbert Wehners, des großen "Zuchtmeisters" der SPD.
Cremer hatte über Friedrich Zugang zu Informationen aus der SPD-Spitze. Zu den Lieferungen nach Ostberlin gehörten Berichte aus hohen Parteigremien genauso wie Interna aus dem Bonner Parteirat oder SPD-Vorstand. Dazu kamen Einschätzungen zu grundlegenden Fragen der Militärpolitik sowie Verfassungsschutzberichte und die Leistungsbilanz des Bundesinnenministeriums zur Terrorismusbekämpfung.
Besserer Spion als Guillaume
"Heute bekannte Fakten lassen darauf schließen, welchen Stellenwert der Agent 'Becker' für die Stasi besaß", machte Forscher Müller-Enbergs deutlich: Der Agent lieferte offenbar meist sehr schnell. Binnen weniger Tage war sein Material in Ostberlin. Sein Führungsoffizier war nicht irgendwer , sondern Walter Weichert, der auch den Spion in Willy Brandts Kanzleramt, Günther Guillaume, führte. Und Guillaume bekam für sein geliefertes Nachrichtenmaterial von den Stasi-Auswertern meist schlechtere Noten als "Becker". Einer von dessen Berichten schaffte die seltene Note 1 und landete damit auf dem Schreibtisch von Erich Honecker.
Kurzum: IM "Becker" war eine sprudelnde Quelle für den DDR-Nachrichtendienst. 115 Informationseingänge sind bis 1986 unter seinem Namen verzeichnet, bereits 1978 "war er mit 37 Informationen auf dem Weg zu einer Spitzenquelle der Stasi", urteilte Müller-Enbergs.
Bemerkte der Stasi-Spion, dass man ihm auf den Fersen war? Jedenfalls lieferte er im Januar 1979 noch schnell ein stattliches Paket von sechs Themen, die "ein dichtes Bild der SPD-Bayern und Tendenzen in der SPD-Führung ergeben haben müssen", urteilt der Experte nach Studium der erhaltenen Akten. Dann war Sendepause - just zur gleichen Zeit, als Cremer aufgeflogen war.
Erneute Kontaktversuche durch die Stasi
Anfang 1979 war der Landtagsabgeordnete Cremer festgenommen worden. Wer sich hinter dem Decknamen "Becker" verbarg, bestätigte der Generalbundesanwalt in Karlsruhe 2002 auf Anfrage dieser Redaktion: "Becker" war Cremer. "
Allerdings bestätigt der Generalbundesanwalt nicht, dass Cremer auch nach der Begnadigung wieder für die Stasi tätig wurde", so Wissenschaftler Müller-Enbergs. Versucht habe es die Stasi allerdings. Zwei Mitarbeiter nahmen 1984 und 1985 erneut Kontakt auf. Doch außer zwei dünnen Berichten über die Situation der bayerischen SPD und der Lage der SPD aus Sicht bayerischer Bundestagsabgeordneter kam offenbar nichts mehr herum. Die Akte "Becker" sollte allerdings bis zur Wiedervereinigung 1990 offen bleiben.
Cremer starb am 22. September 2010 in Triefenstein, Markus Wolf am 9. November 2006 in Berlin. Wolf hatte später versucht, das historische Spiegel-Titelbild von 1979 im Rückblick kleinzureden: "Für mich selbst war es wenig erheblich, ob man in Pullach wusste, wie ich aussah, da die Bundesrepublik in jenen Jahren nicht zu meinen bevorzugten Reisezielen zählte. Aber für die Boulevardpresse war das Foto natürlich ein wahres Geschenk, das weidlich ausgeschlachtet wurde."
Mit dieser Zeitung wollte er 2002 über Cremer und das historische Foto nicht sprechen. Er gab aber im Interview mit dem Spiegel zu: "Hätte ich mich nicht von unserem Residenten in Stockholm in Schweden so vorbildlich betreuen lassen, sondern wie jeder x-beliebige Geschäftsreisende im Hotel gewohnt, dann wäre der Argwohn des schwedischen Geheimdienstes möglicherweise nie geweckt worden, man hätte den Gast nicht zur Kenntnis genommen und folglich nicht observiert."
40 Jahre nach dem "Spiegel"-Titel hängt das Foto inzwischen im Deutschen Spionagemuseum in Berlin.