Der Rollator rattert über die roten Pflastersteine. Im Wagen liegt die "Tina", in der von allem etwas drin steht, wie Erna Kunkel sagt. Es geht vorbei an den Weinreben, hinunter in den Garten des Kreisseniorenzentrums. Von hier aus könne man gut über Marktheidenfeld schauen, sagt Kunkel. Die Sonne bricht gerade zwischen den Wolken hervor. Die 82-Jährige - braune Haare, gebräunte Haut vom Sommer, verschmitztes Grinsen - freut sich: "Spazieren, das ist mein großes Hobby. Die Äcker, das Land. Es war wie eine Erlösung, als ich endlich wieder raus konnte."
Hier, im Garten auf der Terrasse, waren beim letzten Sommerfest des Kreisseniorenzentrums Marktheidenfeld (Lkr. Main-Spessart) vor zwei Jahren alle draußen zusammengekommen. "Herrlich" sei das Sommerfest gewesen, sagt Erna Kunkel. Und heute hätte es endlich wieder so ein Sommerfest geben sollen, draußen und "wohnbereichsübergreifend".
Es hätte gutes Essen gegeben, eine Musikgruppe aus der Umgebung hätte gespielt. Aber nun: Den ganzen Vormittag Regen und nur Ersatzprogramm. Als wollten die schwierigen anderthalb Jahre im Seniorenzentrum nicht enden.
Heimleiterin Doris James: "Wir sehen uns als eine große Familie"
Täglich, beinahe stündlich waren im Frühjahr 2020 die Mails mit neuen Vorgaben gekommen, sagt Doris James. Die Leiterin des Kreisseniorenzentrums - 55, kurze rote Haare, ansteckendes Lachen - blickt vom Aufenthaltsraum hinaus in den Garten. "Es war einfach bei jedem eine ganz große Unsicherheit da."
Zuerst der Besuchsstopp, allein der sei schon hart gewesen. "Wir sehen uns als eine große Familie", sagt James. Nicht nur untereinander: Viele Angehörige besuchten neben der Mutter auch deren Bettnachbarin. Häufig auch noch über den Tod der eigenen Mutter hinaus. Freundschaften fürs Leben sind hier oft noch bedeutungsvoller - weil das Leben nicht mehr lang sein wird.
Mit Mitbewohnerin Elisabeth sei sie vor Corona immer spaziert, sagt Erna Kunkel. Als keine Besuche mehr möglich waren, ging die 82-Jährige alleine auf und ab - im Zimmer. Fernsehen, "Tina" lesen, essen. Das war's.
Die Pflegerinnen und Pfleger vermieden privat Kontakte
Vier Wochen lang, wie in allen Senioreneinrichtungen. "Das war furchtbar, die Leute so komplett isoliert und einsam zu sehen", sagt Pflegefachkraft Kirsten Schwab. Wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen habe sie in der Zeit auf private Kontakte verzichtet, sagt die 27-Jährige. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollten unbedingt geschützt bleiben.
Viele im Heim hätten die Maßnahmen nicht verstanden: "Sie sind oftmals dement, sehen nur, dass das Personal komisch herumläuft." Dabei brauchen gerade demente Menschen Routine. Jeden Tag einmal ums Haus laufen zum Beispiel. Ein anderes Problem: die Ohren. Viele ältere Menschen müssten Lippen lesen, um zu verstehen, was gesagt wird. Mit Maske schwierig. Das vielleicht größte Problem aber, sagt Kirsten Schwab: "Das Lächeln zwischendurch fehlt."
Nach der Isolation: Wieder Spaziergänge mit dem Rollator
Ohne eine Infektion überstand das Marktheidenfelder Kreisseniorenzentrum die erste Welle, Erna Kunkel durfte bald wieder hinaus. Also lief sie, meist die selbe Route. Auf ihrem Weg kennt sie jeden Stein. Und sie kennt die Hunde, die immer an der Leine ziehen, sobald sie die Spaziergängerin mit Rollator sehen: "Die wissen natürlich, dass ich was im Korb hab."
Erna Kunkel hatte früher selbst Hunde. Einen Dackel, einen Pudel, einen Rehpinscher. "Das war unser Hobby", sagt sie und erzählt von ihrem verstorbenen Mann. Als er vor fünf Jahren krank wurde, kam er ins Kreisseniorenzentrum. "Um bei ihm zu sein, deswegen bin ich hierher gezogen."
Zweite Welle: Viele Corona-Fälle im November
In einem Altersheim ist der Tod immer gegenwärtig. Doch so etwas wie die zweite Corona-Welle hat Doris James noch nicht erlebt. Den 30. November vergesse sie ihr Leben lang nicht, sagt die Heimleiterin: der Tag der ersten Reihentestung und auch der Tag, als im Spätdienst ein Mann aus dem Landratsamt anrief. "Ich dachte nur: Oh nein, jetzt hat uns die Welle endgültig erreicht."
Nach und nach ging der Mitarbeiter mit James die Liste der Senioren durch. Schon vorher hatte sie Schnelltests machen und jene mit positiven Ergebnissen isolieren lassen. Doch nun wurden die positiv Getesteten immer mehr. Die Isolationsstation war schnell überfüllt, alle mussten auf ihren Zimmern bleiben. Nicht mal das Personal durfte sich mischen, erinnert sich James. Im November und Dezember 2020 seien dann nicht mehr Bewohnerinnen und Bewohner gestorben als in den Jahren zuvor. "Aber geballter. Mehrere an einem Tag."
Auch Elisabeth, die Freundin, mit der Erna Kunkel so gerne spazieren ging, überlebte die zweite Welle nicht. "Das war fürchterlich für mich", sagt die 82-Jährige.
Wie hält man da durch? Wie bewahrt man da seinen Lebenswillen?
Im Nachtdienst ein Haarschnitt für die, die nicht schlafen konnten
"Also an Nervennahrung hat es uns nicht gefehlt", sagt Kirsten Schwab. Der Zusammenhalt in der Belegschaft sei toll gewesen. Die kleinen Dinge seien es auch gewesen, die den Zusammenhalt unter den Bewohnern stärkte. Eine Kollegin aus dem Nachtdienst sei gelernte Frisörin und schnitt den Bewohnern, die nicht schlafen konnten, die Haare. "Bei den Männern konnte man schon fast Zöpfe flechten." Eine andere Kollegin hatte Fußpflege gelernt und kümmerte sich dann darum.
Während der drei Wellen hatte das Kreisseniorenzentrum außerdem dazu aufgerufen, doch Briefe an die Bewohner zu schreiben. Bis aus den USA seien sie gekommen, sagt Doris James. "An jedem Bett sind dann zwei, drei davon gehangen." Und irgendwann waren dann auch wieder Familienbesuche erlaubt: "Ein wenig wie im Gefängnis", sagt Kirsten Schwab. Gespräche nur hinter Scheiben und per Telefon - aber immerhin.
Ihre Tochter, die weit entfernt wohnt, habe ihr mal ein Smartphone schenken wollen, erzählt Erna Kunkel: "Aber sowas brauche ich nicht. Ich will nicht die ganze Zeit da dran hängen." In diesem Sommer wird sie ihre Tochter nun zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder sehen.
Fast alle sind geimpft: Langsame Rückkehr zur Normalität
Das zweite Datum, das Heimleiterin Doris James nicht mehr vergessen wird: 5. Januar 2021. Der Tag der letzten Reihentestung. Wieder ein Anruf aus dem Landratsamt: Sie solle raten, wie viele Positive es gebe. "Null! Ich konnte es gar nicht glauben." James wischt sich Tränen aus den Augen. "Diese Erleichterung war ein toller Moment."
Heute, ein halbes Jahr später, sind 95 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner der Marktheidenfelder Senioreneinrichtung geimpft. Alle, bei denen es möglich war. Besucher dürfen wieder in die Zimmer, die Bewohner wieder in den Donnerstagsgottesdienst. Sogar Singen geht, zumindest draußen. Die Gymnastik am Freitag und auch das Kegeln am Mittwoch gibt es auch wieder.
Bis auf die Masken und die Hygiene- und Besucherregeln sei vieles wie vor der Pandemie, sagen alle drei. Aber ist damit die Normalität wieder zurück? Erna Kunkel, Doris James und Kirsten Schwab schütteln den Kopf. "Das Risiko ist immer noch da", sagt James. "Auch geimpfte Bewohner können sich anstecken. Das ist in anderen Einrichtungen schon passiert."
Jeden Tag den Balkon auf und ab
Wegen Corona herrschte Aufnahmestopp hier im Heim. Viele Bewohner, die bereits vor Corona hier eingezogen waren, sind dement oder verstorben, jüngere kommen kaum nach. Doch Erna Kunkel läuft weiter. Während der dritten Welle musste ihr dafür der Balkon reichen. 40 Mal auf und ab, jeden Tag: "Die anderen haben mich für verrückt gehalten."
Jetzt ist Sommer, es geht weiter. Wenn nur das Wetter auch mitspielen würde. Dass nicht alles ist wie vor der Pandemie hier im Kreisseniorenzentrum, sieht man an diesem verregneten Tag am Ersatzprogramm. Statt richtigem Sommerfest draußen gibt es einen Würschtelwagen im Gemeinschaftsraum - mit anderthalb Meter Abstand.