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Sickershausen
Wenn die weinende Tochter am Telefon um Geld bettelt: Neue Betrugsmasche mit Künstlicher Intelligenz
Andrea Müller aus Kitzingerin ahnt bei einem Anruf sofort, dass es sich um Betrug handeln muss und zeichnet ihn geistesgegenwärtig auf. Wie die Polizei mit KI-Schockanrufen umgeht.
Andrea Müller aus Kitzingen bekam einen Schockanruf mit der Stimme ihrer Tochter – und zeichnete ihn auf.
Foto: Marius Flegler | Andrea Müller aus Kitzingen bekam einen Schockanruf mit der Stimme ihrer Tochter – und zeichnete ihn auf.
Marius Flegler
 |  aktualisiert: 15.07.2024 18:45 Uhr

Für Andrea Müller (62) aus dem Kitzinger Ortsteil Sickershausen ist es ein gewöhnlicher Dienstagmittag. Sie ist zu Hause, erledigt einige Hausarbeiten und kommuniziert noch mit ihrer Tochter Nina über den Messenger-Dienst Whatsapp. Rund 20 Minuten nachdem die beiden ihre letzte Nachricht ausgetauscht haben, klingelt Müllers Telefon mit unterdrückter Rufnummer. Am anderen Ende der Leitung meldet sich "die Polizei". 

Weder das Präsidium, noch einen Ort, Namen oder eine Stellenbezeichnung nennt die Frau, die vorgibt, Gesetzeshüterin zu sein. Obwohl sie perfekt Deutsch spricht, wird Müller sofort stutzig, wie sie erzählt. In der Zeitung habe sie bereits viel über Callcenter-Betrug gelesen und auch ihre Eltern versucht zu sensibilisieren. Und so drückt sie geistesgegenwärtig die Aufnahmetaste auf ihrem Handy, um das Gespräch aufzuzeichnen. 

Wenn die Polizei jemanden zur Zahlung auffordert, ist Misstrauen angesagt

Ihre Tochter möchte mit ihr sprechen, heißt es. Der Hörer wird weitergereicht. "Hallo?", sagt Müller mit aufgesetzt besorgter Stimme, um das Spiel mitzuspielen. "Halloo-ho-ho-o", schluchzt ihr eine Frau entgegen, die stark zu weinen scheint und für Müller wie ihre Tochter Nina klingt. Die Stimme: gefälscht, vermutet sie. Womöglich durch Künstliche Intelligenz (KI). "Nina?", hakt sie nach: "Was ist denn passiert?"

Die falsche Tochter erklärt, dass sie einen Autounfall hatte. "Und jetzt? Wo bist du?", fragt Müller. Dann unterbricht die angebliche Polizistin das Gespräch: Die Tochter sei polizeiärztlich untersucht worden. Sie habe einen Schock erlitten. Und zwar deshalb, weil sie eine ältere Dame angefahren habe, die inzwischen aufgrund ihrer Verletzungen "leider von uns gegangen" sei.

Polizeisprache ist in der Regel präzise. Eine solche Formulierung würde die Polizei für gewöhnlich nicht verwenden, sagt ein Experte vom Cybercrime-Kommissariat der Kriminalpolizei Würzburg. Je nach Umständen könne man das zwar nicht ausschließen, jedoch werden Todesnachrichten bei der bayerischen Polizei – sofern möglich – grundsätzlich persönlich überbracht. Die Polizei würde zudem niemals telefonisch dazu auffordern, Geld zu überweisen oder zu übergeben, betont der Experte.

Schockanrufer versuchen, ihre Opfer weich zu kochen

Müllers Gespräch läuft in der Folge wie ein gängiger Schockanruf ab: Ihr wird erklärt, dass ihre Tochter sich wegen Unfallflucht strafbar gemacht habe und ihr nun wochenlange Haft drohe. Einziger Ausweg: das Hinterlegen einer Kaution in Höhe von 30.000 Euro.

Die Anruferin versucht, Müller unter Druck zu setzen und fällt ihr ins Wort, wenn sie sagt, dass sie das Geld nicht zahlen könne. Müller wird nach Wertgegenständen gefragt, dürfe aus Datenschutzgründen keine weitere Person hinzuziehen und wird schließlich dazu aufgefordert, ihre Bank aufzusuchen. Sie willigt ein und unterbricht in der Aufregung das Telefonat.

Heute ärgert sie sich deshalb ein wenig über sich selbst, sagt sie. Sie hätte das Ganze weiter auf die Spitze treiben können, die echte Polizei kontaktieren und die Betrüger möglicherweise bei der Geldübergabe stellen lassen können. Ihren Fall brachte sie bei der Kriminalpolizei in Würzburg zur Anzeige. 

Wenn die weinende Tochter am Telefon um Geld bettelt: Neue Betrugsmasche mit Künstlicher Intelligenz

Polizei behandelt KI-Schockanrufe wie gängigen Callcenter-Betrug

Ob die Stimme der Tochter tatsächlich KI-generiert wurde, lasse sich für die Polizei bei solchen Anrufen nicht eindeutig feststellen, erklärt der Kripo-Beamte. KI-Schockanrufe seien deshalb praktisch nicht erfassbar und würden polizeilich wie gängiger Callcenter-Betrug behandelt. Denn die Masche sei im Grunde genommen die Gleiche. In der Statistik sind folglich auch keine Verdachtsfälle von KI-Schockanrufen aus Unterfranken bekannt. 

Grundsätzlich sei das Szenario aber denkbar. Etwa durch Video-Schnipsel auf öffentlichen Social-Media-Profilen könnten Betrüger an Stimmen gelangen, die sie dann maschinell imitieren würden. Der Experte hält das allerdings für unwahrscheinlich. Der Aufwand sei für die Betrüger zu groß. Vielmehr würden hier massenhaft Telefonnummern von solchen Menschen abgearbeitet, deren Namen eher altmodisch klingen. 

"Dass die Stimme ähnlich klingt, mag sich in einer solch aufreibenden Situation auch im Kopf abspielen", sagt der Kripo-Beamte. Die Anrufer wüssten zudem genau, welche psychologischen Knöpfe sie bei ihrem Gegenüber drücken müssten: "Das sind gut geschulte Leute."

KI-Stimmen zu identifizieren, ist möglich, aber irrelevant

Andreas Dengel ist Geschäftsführender Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern und testet unter anderem KI-Systeme für die Polizeiermittlung. Um die nachgeahmte Stimme zu entlarven, müsste die angerufene Person selbst eine entsprechende KI auf ihrem Smartphone installiert haben, erklärt er. Schon aus Gründen des Datenschutzes sei das allerdings nicht erlaubt. 

Zu Ermittlungszwecken bräuchte die Polizei eine Aufnahme des Gesprächs sowie die Originalstimme der nachgeahmten Person. Doch die reine Versicherung darüber, dass es sich um eine KI-Stimme handelt, bringt noch lange keinen Ermittlungserfolg. Ein solches Verfahren spiele aus polizeilicher Sicht deshalb praktisch keine Rolle, sagt Dengel.

Gesundes Misstrauen ist bei merkwürdigen Anrufen wichtig

Am Ende, sagt der Würzburger Polizist, bleibe nur das altbewährte, gesunde Misstrauen. Wenn plötzlich die Tochter anruft und einen Batzen Geld fordert, so sollten Betroffene das Gespräch beenden, sich kurz beruhigen und dann nachfragen, ob sich tatsächlich Verwandte in Not befinden. 

Was Andrea Müller geholfen hat, wie sie sagt, ist, die Nummer von älteren Angehörigen aus dem Telefonbuch entfernen zu lassen. Ihr eigener Vater sei selbst bereits Opfer von Betrügereien geworden. Solche Anrufe hätten seitdem deutlich abgenommen.

 
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  • Ute Schlichting
    Schlimm, und es wird immer schlimmer. Und gefühlt wird nichts unternommen. Immer das Argument, die sitzen im Ausland,da kann man eh nix machen.
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