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Nenzenheim
Seltener als ein Lottogewinn, bunter als ein Regenbogen: Kleefstra-Kinder und ihr verdrehtes Gen
Wie eine Gen-Mutation Familien belastet, aber auch zusammenschweißt. Die Schenks aus Nenzenheim berichten über das wenig erforschte Kleefstra-Syndrom ihrer Tochter.
Kleefstra-Kinder lachen gern (von links): Alina (11) aus dem fränkischen Nenzenheim, Nina (9) aus der Schweiz, Karl (5) aus Nordrhein-Westfalen und Martin (25) aus Hessen. 
Foto: Kathrin Schenk | Kleefstra-Kinder lachen gern (von links): Alina (11) aus dem fränkischen Nenzenheim, Nina (9) aus der Schweiz, Karl (5) aus Nordrhein-Westfalen und Martin (25) aus Hessen. 
Diana Fuchs
 |  aktualisiert: 26.03.2025 02:36 Uhr

Blonde Haare, blaue Augen, strahlendes Lachen, Schreien: Alina Schenk aus Nenzenheim ist ein goldiges Mädchen. Auf den ersten Blick vermutet niemand, dass die Elfjährige eine folgenschwere Erkrankung hat. Bis Kathrin und Matthias Schenk erfuhren, was mit ihrem zweiten Kind los ist, dauerte es sechs Jahre, in denen sie während mancher durchwachten Nacht der Verzweiflung nah waren.

Alina ist vom Kleefstra-Syndrom betroffen, einer der Seltenen Krankheiten. Weniger als einer von einer Million Menschen erkrankt daran. Erst im Jahr 2009 wurde Kleefstra überhaupt entdeckt. Entgegen erster ärztlicher Prognosen kann Alina inzwischen nicht nur laufen und sprechen, sondern ist ein kommunikatives Mädchen, das Musik und Tiere liebt, gern singt und tanzt, und trotz geistiger und körperlicher Einschränkungen das Familienleben der Schenks bereichert.

Familien aus verschiedenen Ländern tauschen sich aus

"Je nach Größe und genauer Platzierung des Gendefekts auf dem Chromosom 9 kann das Kleefstra-Syndrom ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Es reicht von Kindern, die nicht sprechen und im Rollstuhl sitzen, bis hin zu welchen, die annähernd auf einem normalen Entwicklungsstand sind", sagt Arzthelferin Kathrin Schenk. Woher sie das weiß? "Es gibt seit 2019 eine deutschsprachige WhatsApp-Gruppe, gegründet vom Vater eines Kleefstra-Kindes, mit deren Hilfe sich Eltern aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Belgien vernetzten, austauschen und gegenseitig unterstützen."

Alina winkt in die Kamera. Zusammen mit ihren Eltern Kathrin und Matthias Schenk reiste das Nenzenheimer Mädchen im Herbst 2024 nach Erfurt – zum ersten Treffen der internationalen Kleefstra-Familie.
Foto: Nils Schenk | Alina winkt in die Kamera. Zusammen mit ihren Eltern Kathrin und Matthias Schenk reiste das Nenzenheimer Mädchen im Herbst 2024 nach Erfurt – zum ersten Treffen der internationalen Kleefstra-Familie.

Im September 2024 gab es ein erstes persönliches Treffen von gut 15 Familien, die aus verschiedenen Ländern nach Erfurt kamen. "Das war ein Aha-Erlebnis: Es gibt wirklich mehrere von uns!", sagt Kathrin Schenk.

So unterschiedlich Alina aus Franken, Karl (5) aus dem Raum Düsseldorf, Martin (25) aus Hessen und all die anderen auch sind: "Wir haben viele Parallelen festgestellt", erklärt Kathrin Schenk und nennt die häufigsten Symptome: geistige Behinderung, instabile Muskulatur, Entwicklungsverzögerung, Sprachentwicklungsstörungen, Herz- und Nierenerkrankungen, Epilepsie, Probleme mit der Verdauung, Schlafstörungen, Zahnfehlstellungen, Schwerhörigkeit, Autismus-Spektrum-Störungen, Übergewicht und psychiatrische Probleme wie Ängste oder Zwänge. "Das hört sich brutal an. Aber es hat ja nicht jeder alles. Bei Kleefstra gilt: Alles kann, nichts muss!"

Alina beispielsweise hat Darmprobleme und schläft oft schlecht. Wenn zu viel auf sie einprasselt, flippt sie unkontrolliert aus. Die Elfjährige besucht eine Förderschule. Ihre Mama sagt: "Trotz aller Einschränkungen hat das Kleefstra-Syndrom auch viele positive Seiten."

"Es hat sich angefühlt wie Familie": Beim ersten Treffen der von Kleefstra betroffenen Familien fühlten sich Matthias, Kathrin und Alina Schenk gleich wohl.
Foto: Sebastian Ziegler | "Es hat sich angefühlt wie Familie": Beim ersten Treffen der von Kleefstra betroffenen Familien fühlten sich Matthias, Kathrin und Alina Schenk gleich wohl.

Beim Treffen in Erfurt habe sich abgezeichnet, dass alle Betroffenen Musik lieben, gern schwimmen oder planschen, aufgeschlossen und neugierig sind und ein liebenswertes, freundliches Wesen haben, so die 39-Jährige: "Sie lachen gern und nehmen oft Kleinigkeiten wahr, die uns gar nicht auffallen." 

Falsche Vorhersagen: "Ihre Tochter wird nie laufen oder sprechen"

Als ihre Tochter fröhlich singend durchs Wohnzimmer hüpft, wird Kathrin Schenk kurz nachdenklich: "Damals, als sie zwei war, hat ein Arzt zu uns gesagt: 'Ihre Tochter wird nie laufen oder sprechen.'" Sie erinnert sich auch an andere falsche Vorhersagen. Anders als bei ihrem älteren Sohn Nils, heute 15, gab es am Ende der Schwangerschaft mit Alina Probleme.

"Es werde wohl ein Frühchen, hat man uns angekündigt." Noch im Bauch bekam das Baby deshalb vorsorglich eine Lungenreife-Spritze. Danach geschah – nichts. "Der Geburtstermin kam. Alina nicht." Zehn Tage nach Termin wurde die Geburt eingeleitet. Kaum auf der Welt, lief das Kind blau an und kam auf die Intensivstation. 

Diagnose: ein Loch in der Herzscheidewand. "Das könne sich verwachsen, hat man uns gesagt." Als Alina ein Dreivierteljahr alt war, machten sich Kathrin und Matthias Schenk trotzdem Sorgen: "Sie brabbelte und kabbelte nicht wie andere Kinder."   

Alexandra, 34, aus Norddeutschland hat die Diagnose 'Kleefstra' erst im Alter von 32 Jahren bekommen. Jetzt ist sie froh, dass das 'Kind endlich einen Namen hat' - und trägt ein Käppi mit dem Logo der Kleefstra-Aktionsgruppe.
Foto: Kleefstra-Aktionsgruppe/Kathrin Schenk | Alexandra, 34, aus Norddeutschland hat die Diagnose "Kleefstra" erst im Alter von 32 Jahren bekommen. Jetzt ist sie froh, dass das "Kind endlich einen Namen hat" - und trägt ein Käppi mit dem Logo der ...

Ein erster, vergleichsweise oberflächlicher Gentest per Blutuntersuchung ergab, dass "alles okay" sei. Also suchten die Schenks Hilfe durch Frühförderung, Ergotherapie, Darmsanierungen, Osteopathie. Letzteres auf eigene Kosten. "Gerade die Osteopathie hat sehr geholfen", berichtet Kathrin Schenk. "Alina hat dadurch angefangen zu laufen." Sie besuchte den Kindergarten im benachbarten Hellmitzheim; eine Integrationskraft stand ihr zur Seite. 

Ende 2019 fuhr die ganze Familie nach München, um sich einer großen genetischen Untersuchung zu unterziehen. Das Ergebnis kam Anfang 2020 per Post. "Ich hab' erstmal gegoogelt", erinnert sich Kathrin Schenk. "Auch viele Ärzte kennen Kleefstra gar nicht." 

Familie Schenk ist froh, dass das Syndrom nicht lebensverkürzend ist. Alina braucht auch keine Grundmedikation. "Aber wir wissen: Wir müssen sie immer fördern." Das geschieht zum Beispiel durch wiederkehrende Besuche im Filumi-Kinderzentrum  im Fichtelgebirge, wo alleine die Therapie jeweils um die 1000 Euro kostet und selbst gezahlt werden muss. "Wir fahren da auch heuer wieder hin, weil Alina wahnsinnig davon profitiert", macht Kathrin Schenk deutlich.

Nach ihr ist das Syndrom benannt: Die niederländische Humangenetikerin Dr. Tjitske Kleefstra hat die Erkrankung im Jahr 2009 erstmals wissenschaftlich beschrieben.
Foto: Bianca de Graaf/Erasmusmc.nl | Nach ihr ist das Syndrom benannt: Die niederländische Humangenetikerin Dr. Tjitske Kleefstra hat die Erkrankung im Jahr 2009 erstmals wissenschaftlich beschrieben.

Im Alltag sind Routinen hilfreich. Doch die Schenks lassen Alina auch immer wieder bis an ihre Grenzen gehen. "Denn nur so entwickelt sie sich weiter. Und das lässt sie dann auch stolz und selbstbewusst werden." Generell liebt Alina es zu singen und zu tanzen, auf dem Trampolin zu hüpfen, zum Kinderturnen zu gehen, behandelt zu werden, wie jedes andere Kind – auch wenn mal was schiefgeht. 

"Aber gestorben bist Du noch nicht"

Für die Eltern selbst ist das Leben mit Kleefstra ebenfalls immer wieder ein Grenzgang – überraschend schön, manchmal schrecklich anstrengend. Oder ein bisschen peinlich. Als Matthias Schenk kürzlich mit seiner Tochter einkaufen war, hörte er sie einen älteren Mann fragen, ob er schon ein Opa sei. "Der Mann hat freundlich genickt", erzählt Schenk. "Da sagt Alina doch glatt zu ihm: 'Aber gestorben bist Du noch nicht.'"

In solchen Fällen würden die Schenks gerne klarstellen, dass Alina das nicht böse meint, sondern sich halt zum Beispiel gerade mit dem Thema Tod beschäftigt und einfach "kein Feeling für Distanz" hat, wie Kathrin Schenk es formuliert. Lachend fügt die Nenzenheimerin an: "Manchmal hat Alina Glück, dass sie so niedlich und charmant wirkt, sonst hätte manch einer sie schon an die Wand gepappt." 

Wie ihr Kind sich als Pubertierende, als Erwachsene wohl entwickeln wird? Kathrin Schenk sagt: "Man weiß nicht, wohin die Reise geht." Nur eines ist bei Kleefstra sicher: "Alles kann, nichts muss."

Kleefstra-Syndrom

Die Ursache: Das Kleefstra-Syndrom entsteht durch eine Veränderung des Gens 9q34. Deutschlandweit sind aktuell rund 50 Fälle bekannt, weltweit etwa 1000. Benannt ist die Erkrankung nach ihrer Entdeckerin, der niederländischen Humangenetikerin Tjitske Kleefstra, die sie 2009 erstmals beschrieb. Der Gendefekt scheint durch spontane Mutation zu entstehen. 
Infos: Kathrin Schenk hat einen Flyer erstellt und vernetzt betroffene Familien. Ihr Traum ist die Gründung eines Fördervereins. Sie ist per Mail unter kathrin.schenk.0913@web.de zu erreichen. Weitere Infos: www.kleefstraworldmap.org; www.idefine.org; https://gofund.me/dfc43975.
Quelle: ldk
 
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