
Es ist die Nacht des 14. auf den 15. Januar: Im Volkacher Gewerbegebiet treibt sich ein junger Mann herum, der sich äußerst seltsam verhält. Unter dem Arm schleppt er ein gelbes Ortsschild der Stadt Volkach. Ein Passant stellt den Mann zur Rede und droht mit der Polizei. Rasch lässt der Heranwachsende seine Beute fallen und verschwindet im Dunkel der Nacht. "Das zurückgelassene Ortsschild wurde durch die Streife der Polizei Kitzingen gesichert und wird der Stadt Volkach wieder übergeben", heißt es am folgenden Tag im Polizeibericht. Ein seltener Glücksmoment.
An anderer Stelle waren die Diebe erfolgreicher. In Iffigheim und Wässerndorf. In Sommerach und Martinsheim. In Mainbernheim und Gerlachshausen – und gleich fünfmal in Gaibach. 22 Fälle hat das Landratsamt Kitzingen seit Sommer 2019 in seinem Zuständigkeitsbereich registriert. Jedes Jahr stieg die Zahl. Zweimal wurde die Tafel am nächsten Tag vor Ort gefunden.
Für das Landratsamt ist die Sache "kein Kavaliersdelikt"
Die Kreisbehörde beobachtet das Phänomen mit Sorge. Denn neben den rund 300 Euro Materialwert geht es vor allem um die Sicherheit im Ort. Zu Jahresbeginn hat das Landratsamt deshalb einen Appell gesendet, der durchaus als Alarmruf zu verstehen ist. Ein Ortsschild zu klauen sei "kein Kavaliersdelikt" und mindestens Diebstahl. Die Polizei spricht sogar von gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr. Fehle das Schild, bestehe die Gefahr, dass Autofahrer "unbeabsichtigt mit bis zu 100 km/h im Ort" unterwegs seien, so das Landratsamt – womöglich mit fatalen Folgen für den Fahrer und eventuelle Fußgänger.
In der Regel sind es Orte mit außergewöhnlichen Namen, deren Eingangsschilder gerne mal verschwinden, so die an der Ostsee gelegenen Ortsteile Kalifornien und Brasilien. Das kleine Dorf Petting am Waginger See geriet 2018 in den Fokus der Weltöffentlichkeit – weil ein großer Online-Anbieter von Pornofilmen allen 2400 Einwohnerinnen und Einwohnern kostenlose Abos offerierte. Seitdem häufen sich dort die Diebstähle der Ortsschilder. Im österreichischen Fucking hatte man nicht nur wiederkehrende Probleme mit obszönen Klingelstreichen, sondern auch mit geklauten Ortstafeln. Anfang 2021 benannte man sich schließlich um: in Fugging. Eines der letzten alten Ortsschilder landete im Museum des 100-Seelen-Dorfes.
Was aber animiert Menschen, Schilder von Iffigheim oder Gaibach mitgehen zu lassen?

Die Frage bewegt auch Heiko Bäuerlein. Man erreicht den Volkacher Bürgermeister an einem grauen Montagnachmittag in seinem Büro im Rathaus. Dass in Gaibach, einem Stadtteil von Volkach, seit August 2019 gleich fünfmal das Ortsschild verschwunden ist, hat er "mit Interesse in der Zeitung gelesen". Aber bei "5000 anderen Baustellen", die ihn derzeit fordern, hat das Thema für ihn jetzt nicht höchste Priorität, zumal sämtliche Tafeln an der Kreisstraße standen, den Schaden also der Landkreis regulieren muss. Warum die Ortsschilder vor allem an dieser Stelle wegkamen, darüber mag Bäuerlein "nicht spekulieren".
Andere schon. Könnte es sein, dass sich mancher Schüler, der in Gaibach jahrelang das Internat besucht hat, zum Abschluss ein Souvenir für die künftige Studentenbude oder den heimischen Partykeller sichern will? Eine Erinnerung in Form einer "Visitenkarte in Blech", wie Bäuerlein es nennt.
Anruf bei Bernhard Seißinger, dem Direktor des Frankenlandschulheims Schloss Gaibach. Er finde die Frage "gar nicht so abwegig", sagt er. "Der Verdacht liegt ja nahe, dass Internatsschüler als Souvenirjäger unterwegs sind." Man dürfe aber nicht vergessen, dass die Schilder auch zu Zeiten verschwanden, in denen gerade Ferien waren. Seißinger versichert, dass die Schule – gerade wenn die Verabschiedung ganzer Jahrgänge ansteht – ein "besonders waches Auge" für das Problem habe. Bisher seien in den Zimmern der Internatsschüler noch keine Ortsschilder gefunden worden. Und vielleicht habe das Phänomen auch damit zu tun, dass Gaibach nicht nur Schulstandort sei, sondern mit seiner Konstitutionssäule auch interessant als "ein Ort der Demokratiegeschichte".
Die Schilderdiebe rücken mittlerweile schon mit der Flex an
Bei der Kitzinger Polizei kann oder will man sich zu dem Thema nicht äußern. Fragt man beim Polizeipräsidium Unterfranken nach, dann heißt es, eine tatsächliche Häufung lasse sich "in der Gesamtbetrachtung nur schwer ausmachen". Zu speziellen Sicherungsmethoden solle man bitte bei den örtlichen Bauhöfen nachfragen. In Volkach hat Bauhofleiter Harald Troll die innerstädtischen Ortsschilder "weitgehend diebstahlsicher" gemacht. Entlang der Kreisstraßen hilft nicht einmal mehr das, wie es aus dem Landratsamt heißt. Nachdem man in Gaibach die Schrauben verschweißt hatte, rückten die Diebe offenbar mit einer Flex an und durchtrennten die metallischen Sicherungen.
Bis ein Schild wieder an Ort und Stelle hängt, können laut Troll mehrere Wochen vergehen. "Die Schilder liegen ja nicht massenweise bei uns im Bauhof herum", sagt er, sondern sie müssten immer individuell angefertigt werden. Für den Bauhofleiter ist das Ganze erst in den letzten Jahren zum Problem geworden, wobei auch er nur spekulieren kann, was hinter dem Trend steckt und wo all die Schilder landen. "Das sind wahrscheinlich Trophäen für den Partykeller." Einen Schilderdieb auf frischer Tat zu erwischen – wie Anfang Januar in Volkach – gelingt nur äußerst selten. Die Aufklärungsquote bei solchen Delikten geht gegen null. Deshalb ruft das Polizeipräsidium in Würzburg dazu auf, Augen und Ohren offen zu halten. Jeder Fall, so teilt das Kitzinger Landratsamt mit, werde zur Anzeige gebracht.