Wer ein Haus kauft, bekommt dafür einen Schlüssel, der im besten Fall zu Wohnungstür, Garage und Keller passt. Wer einen Bahnhof kauft, hat vor sich ein Arsenal von 22 Ringen, und an jedem dieser Ringe hängen bis zu einem halben Dutzend Schlüssel und bunte Plastiketiketten, auf denen steht: Heizöl, Reisezentrum, Kiosk oder Backshop. Sie liegen aufgereiht auf dem verstaubten Fensterbrett eines Nebenraums, in den an diesem Abend fünf Männer schlüpfen. Stefan Güntner steht im gleißenden Neonlicht, wirft einen prüfenden Blick an die Decke und sagt: „Das sieht ja gar nicht so schlecht aus hier.“
Es ist Donnerstagabend und Tag sechs, nachdem Güntner in seiner Funktion als Kitzinger Oberbürgermeister den Kaufvertrag für den Kitzinger Bahnhof unterzeichnet hat. Er war zuletzt 2018 in dem Gebäude – mit Vertretern des damaligen Eigentümers, der Bahn. Den Bahnhof hat er vor dem Kauf kein einziges Mal gesehen, geschweige denn dessen Zustand geprüft. Man könnte sagen, er hat die Katze im Sack gekauft. Aber das war ihm egal bei diesem Objekt der städtischen Begierde, das so lange auf seine Erlösung wartete.
An diesem Abend sieht auch Güntner zum ersten Mal, was er, was die Stadt sich da angelacht hat. Mit einigen Vertretern aus dem Rathaus startet er zu einer Reise ins Ungewisse. Er wird vor einer karibischen Meerlandschaft stehen, in einem vermüllten Treppenhaus den Rückzug antreten und auf einer Gartenbank sitzen – und am Ende wird er sagen: „Man kann sich hier Vieles vorstellen.“
Für einen Moment aus dem künstlichen Koma erwacht
Vor anderthalb Jahren gingen am Kitzinger Bahnhof plötzlich die Türen zu und die Lichter aus. Kurz nachdem die neuen Eigentümer, eine Frankfurter Immobiliengesellschaft, das Gebäude von der Bahn übernommen hatten, versetzten sie es in eine Art künstliches Koma. An diesem Abend erwacht es kurzzeitig wieder zum Leben, mühsam und widerspenstig wie ein altersschwaches Wesen. Knarzend öffnen sich Türen und geben den Blick frei auf eine im Grunde gesunde Substanz. Güntner dürfte erleichtert sein: So schlecht geht es dem Patienten Bahnhof nicht.
Wohin der Schein der Handlampen auch fällt – da ist nichts, was ihm und seinen Begleitern kalte Schauer über den Rücken jagen würde. Der Bahnhof, 1865 als Gründerzeitbau errichtet, hat allen Stürmen der Zeit getrotzt. Auch die vergangenen zwei Jahre, in denen er sträflich vernachlässigt worden war, konnten ihm augenscheinlich wenig anhaben.
Von einem Seiteneingang aus startet der kleine Trupp seine Expedition durch das Gebäude. Von hier aus geht es in das einstige Reisezentrum, einen wohnzimmergroßen Raum, in dem Tickets und Träume verkauft wurden. Von der Wand verspricht ein Banner immer noch „Fahrkarten für Sie persönlich“. Durch eine bodentiefe Glasfront blickt man hinüber in die dunkle Wartehalle. Um dorthin zu gelangen, muss man das Gebäude durch den Seiteneingang verlassen und durch den Hintereingang wieder eintreten.
Die Halle steht leer, das Licht funktioniert wie im ganzen Objekt nicht. In einer Ecke liegt ein Haufen gefalteter Fahrpläne, ein Plakat an der Wand verheißt: „Ganz nah dran an Ihren Urlaubswünschen.“ Es erinnert an die Zeit, als dies ein Ort des Aufbruchs und des Ankommens war, des Abschieds und des Willkommens, des Weinens und des Lachens, Tausende von Kontakten Tag für Tag. Draußen rauschen jetzt die Züge heran, spucken Menschen aus und saugen Menschen an. Von hier drinnen wirkt die Szenerie seltsam surreal. Passanten stehen an der Tür und schauen wie durch ein Aquarium auf den nächtlichen Spuk in der Halle.
In der Gaststätte sieht es aus, als sei nur Ruhetag
Schließt man die Augen, erscheinen die Bilder von einst. Der kleine Zeitschriftenladen, inzwischen verschwunden hinter einer Gipswand, die wenigen Schließfächer an der Wand, der Eingang zur Bahnhofsgaststätte, der verhüllt war mit vergilbten Gardinen. Wer die Tür öffnete, stand vor einer Wand aus Rauch. Nichts davon ist mehr vorhanden. Und doch: Wer die Gaststätte betritt, wer sich den Weg bahnt, vorbei an kleinen Sitznischen mit Holzmöbeln und einer holzvertäfelten Bar, der riecht selbst durch die FFP-2-Maske noch den kalten Rauch.
Die Küche, das alte Mobiliar – zumindest hier scheint es, als sei gerade nur Ruhetag. Als komme morgen der Wirt und sperre wieder auf. Hinten im großen Nebenzimmer erscheint im Lichtkegel der Taschenlampen ein großes Wandgemälde mit weißem Strand und türkisblauem Meer.
Von der Küche führt eine enge Wendeltreppe hinauf ins Obergeschoss und in einen der Dachböden. Von dort geht es weiter in eine der großzügig geschnittenen Wohnungen. Man schaut direkt hinunter auf den Bahnsteig und die einfahrenden Züge, die durch die schallisolierten Fenster den Eindruck erwecken, als glitten sie dahin. Wer die Tür zum Treppenhaus öffnet, steht in einem Meer aus Müll.
Die letzte Mieterin hat hier ein Schlachtfeld hinterlassen, ein rosa Kinderfahrrad steht auf dem Treppenabsatz, es riecht nach Urin und Moder. Offenbar sind hier auch Tauben im Haus. Güntner bricht den Weg zur oberen Wohnung ab; die anderen gehen weiter. Es ist der einzige Moment, der einen kurz schaudern lässt. Der Mann der letzten Mieterin soll kurz vor deren Auszug in der Wohnung verstorben sein.
Als der Tross wieder unten ist in der Wartehalle, setzt sich Güntner auf eine Bank, die vergessen herumsteht. Ein Oberbürgermeister, der sich im Raum und in Gedanken verliert. Was könnte die Stadt nicht alles anstellen mit dem Bahnhof? Jenem Sehnsuchtsobjekt, dem sie so lange so beharrlich hinterhergejagt ist. Und das sie jetzt rasch weiterverkaufen will? So hatte es geheißen.
Aber von Verkauf will der OB an diesem Abend wenig wissen. Er sei da vielleicht ein wenig missverstanden worden. Lieber spricht er von Perspektiven und Möglichkeiten, von je 230 Quadratmetern Nutzfläche in den beiden Obergeschossen, von weiteren 400 Quadratmetern im Erdgeschoss. Von Raum für Ideen.
Die Kosten für eine Sanierung liegen auf dem Tisch
Der lokale Investor, der mit den Eigentümern aus Frankfurt den Bahnhof entwickeln wollte, bis er merkte, dass die ganz anderes im Schilde führten und das Gebäude lieber verkümmern ließen, hat der Stadt ein fertiges Sanierungskonzept überlassen. Er rechnet mit 1,3 bis 1,5 Millionen Euro, um den Bahnhof wieder zu der „Visitenkarte der Stadt“ zu machen, von der Güntner spricht. OB und Stadtrat wissen nun grob, was auf sie zukommt.
Bei den Interessengruppen sind Begehrlichkeiten geweckt: Der Verkehrsclub Deutschland wünscht sich eine Mobilitätsdrehscheibe mit barrierefreien Zugängen, Busbahnhof, Reisezentrum und Fahrradparkhaus, der Stadtheimatpfleger ein Kultur- und Informationszentrum. In einem ersten Schritt sollen nun Wartehalle und Toilette geöffnet werden, das kann aber noch bis zum Frühsommer dauern, sagt der OB.
Die wichtigste Botschaft ist an diesem Abend auch ohne große Worte angekommen: Für den Bahnhof gibt es wieder ein Morgen.
Leute die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen.
Bei der Auswahl der Alternativen sollten die Stimmen der späteren Nutzer und der Zivilgesellschaft mindestens genauso stark gewichtet werden, wie die des Stadtrates.