Immer schön neugierig bleiben – dieses Motto hält Walter Vogt fit. Der Kitzinger muss sehr neugierig sein, denn seine 94 Jahre merkt man ihm so gar nicht an. Er ist agil, zugewandt und hellwach. Und ihn umgibt eine wunderbare Vornehmheit, wenn er etwa zur Begrüßung elegant den Strohhut lupft. Die Neugierde steht auch im Mittelpunkt, wenn ein ganz besonderes Ereignis stattfindet: Der Kitzinger Abitur-Jahrgang 1949 kommt an diesem Samstag zu seinem letzten Klassentreffen zusammen.
Die Tradition sieht Kaffee und Kuchen im Deutschen Haus und Abendessen im Bayerischen Hof vor. Dazwischen liegt die Neugierde: Ein Bus bringt die Teilnehmer in die ehemaligen US-Liegenschaften. Man will sich anschauen, was sich in der Wohnsiedlung Marshall Heights getan hat. Man will sich informieren, wie sich die Dinge rund um den Flugplatz im Industriegebiet ConneKT entwickelt haben.
Dem Zufall wird nichts überlassen
Walter Vogt hat in den vergangenen Wochen oft seinen Strohhut gelupft. Er hat sich informiert, ist bei den Verantwortlichen vorstellig geworden. Als Organisator und – wenn man so will – Reiseleiter will er nichts dem Zufall überlassen. Wenn schon, denn schon. Auch und gerade mit fast 95. Man kann sich darauf verlassen, dass es ein unvergessener Nachmittag wird – so wie in den vielen Jahrzehnten davor.
Etwas ist dann allerdings doch, logischerweise, anders: Die Teilnehmerzahl hat sich stark reduziert. Von den 55 Abiturienten des Jahres 1949 nehmen noch zwei Frauen und zwei Männer an dem Treffen teil, zwei weitere haben abgesagt. Die verbliebenen vier Mitt-Neunziger haben Unterstützung von sechs weiteren Teilnehmern, die beispielsweise Partnerinnen oder Partner ehemaliger und inzwischen verstorbener Mitschüler sind oder nur kurz in der Klasse waren.
Walter Vogt fiel die Organisation vor gut zehn Jahren zu. Zunächst hatten sich Fritz Lilly und Walter Kissling sowie später dann Reintraut Repper darum gekümmert. Nachdem sich die eigenen Reihen immer weiter gelichtet hatten, übernahm der Kitzinger gerne – weil Tradition wichtig ist. Ebenso wie die Erinnerung. Eine Erinnerung, die in den Zweiten Weltkrieg hineinreicht und bis zum heutigen Tag nachwirkt.
Nach dem Luftangriff war die Schule weg
Wie sehr, merkt man Walter Vogt an, wenn er nach Worten ringt, wenn es um die Schulzeit in den Kriegsjahren geht. Wenn er von der Schule im Rosengarten erzählt, in der am Ende nur noch im Parterre unterrichtet wurde, weil die oberen Etagen als Lazarett dienten. Dann der Luftangriff auf Kitzingen am 23. Februar 1945. Die Schule gab es danach nicht mehr. "Ein einziges Trümmerfeld", bringt es der 94-Jährige auf den Punkt.
Die Schüler hatten sich an diesem Morgen nach dem Sirenenalarm in einen Luftschutzkeller in der Bismarckstraße gerettet. Dachten sie. Unmittelbar neben dem Gewölbe, in das sich die Klasse von Walter Vogt begeben hatte, erwischte es eine andere Klasse, die zwei Jahre älter war: 16 Schüler und ein Lehrer starben qualvoll nur wenige Meter entfernt. "Das ist bis heute präsent" – ein Satz, für den sich Walter Vogt, der damals keine 16 Jahre alt war, auch heute noch lange sammeln und gehörig zusammenreißen muss.
Über ein Jahr lang kein Schulunterricht
An Schule war danach nicht mehr zu denken: Bis ins Frühjahr 1946 hinein fand kein Unterricht mehr statt. Danach folgte ein Neubeginn in der ehemaligen katholischen Grundschule in der Schrannenstraße. Später zog man in die ehemalige Judenschule in der Landwehrstraße um, in der sich heute das Stadtarchiv befindet und bis vor einiger Zeit auch das Stadtmuseum untergebracht war. Genau dort legte der Jahrgang von Walter Vogt, verteilt auf zwei Klassen, im Frühsommer 1949 sein Abitur ab. Kurz vorher entstand vor dem Haus das einzig verbliebene Klassenfoto aus dieser Zeit.
Wie das damals bei den Prüfungen war, ist in der Festschrift zum 60-jährigen Jubiläum 2009 nachzulesen: "Der Brief mit den Aufgaben aus München wurde geöffnet und mancher Lehrer erbleichte genauso wie wir." Es folgten "Prüfungen an fünf Tagen in einer Woche bis zu sieben Stunden". Und dann war es soweit: Für zwei Klassen mit 55 Schülerinnen und Schüler begann das Nachkriegsleben.
Für Walter Vogt hieß das: Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Würzburg und Nürnberg, promovierte zum Doktor für Wirtschafts- oder Verwaltungswissenschaften und war dann einige Jahre in der Fremde unterwegs. 1956 zog es ihn zurück nach Kitzingen, wo er beim Automobilzulieferer Fehrer anheuerte und dort auch bis zur Rente blieb.
Die Klassentreffen fanden ab 1979 zunächst alle zehn Jahre statt. 1999, zum 50. Jubiläum, dann alle fünf Jahre, ab 2009 dann jährlich. Dass man sich 2024 zum letzten Mal versammeln wird, stand schon nach dem letztjährigen Klassentreffen fest. "Einmal noch", hatte Walter Vogt mit der damals versammelten Mannschaft beschlossen. Als Walter Vogt im Frühjahr einen Rundruf startete und viermal "großer Jubel" ausbrach, war klar: Es macht Sinn, die Nummer 75 kann über die Bühne gehen.
Der 94-Jährige machte sich ans akribische Organisieren und kundschaftete – voller Neugierde – die ehemaligen US-Liegenschaften aus, baute ein buntes Programm zusammen. Ein gemeinsamer Nachmittag noch. Einmal noch erinnern. Zusammen schwelgen. Aber auch gedenken und trauern. Danach fällt der Vorhang für den Abiturjahrgang 1949. Denn, so sagt es Walter Vogt mit der Gelassenheit und Lebenserfahrung eines 94-Jährigen: "Ich will nicht, dass am Ende nur noch einer zu dem Klassentreffen kommt!"
Toller Bericht der MP, und noch schöne Jahre in Gesundheit den letzten Verbliebenen jenes Abiturjahrgangs.