Viel ist nicht mehr da. Das alte Drehkreuz am Eingang, ein paar geplünderte Schaltschränke, die kleinen rechteckigen Fenster aus Panzerglas, dünne Schlitze, die im Ernstfall zu Schießscharten wurden. Aber es gibt etwas, was man diesem einst verbotenen Ort niemals entreißen kann, und das ist die Erinnerung. Jahrzehntelang durfte man hier nicht sein, sich nicht einmal in der Nähe aufhalten. Mythen und Legenden ranken sich um diese Stätte, und es fühlt sich unwirklich an, jetzt hier zu stehen. "Explosive Limit" liest man auf einer der Wände.
Der Wind pfeift durch zerborstene Fenster, hinter denen einmal schwer bewaffnete Soldaten saßen. Die Kälte dringt durch Türen, die vormals alarmgesichert waren. Wasser steht zwischen meterdicken Betonmauern, wo einst, ja, was eigentlich lagerte? Atomwaffen, sagen die, die es wissen müssten. Besuch im ehemaligen Sondermunitionslager der US-Armee im Kitzinger Klingenwald. Noch einmal der Frage nachgehen, was hier während des Kalten Kriegs ablief, ehe das alles abgeräumt und plattgemacht wird. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) als Eigentümerin gewährt – erstaunlich unkompliziert – noch einmal Einblick in das Gelände.
2007 zogen die letzten von einstmals 12 000 US-Soldaten aus der Stadt ab – zurück blieben Orte wie dieser. Orte, an denen die Zeit nur zu vergehen scheint, um ihnen noch größere Faszinationskraft zu verleihen. Entdecker und Nostalgiker haben schon vor Längerem einen Begriff für sie erfunden: Lost Places. Jenseits aller Ruinenromantik bergen sie Überreste von Geschichte und Geschichten. Deshalb fällt es so schwer, diesen Orten beim Vergehen und Verschwinden zuzusehen. Ein Ort wie dieser stirbt still und heimlich. Stirbt, weil sein Besitzer ihn loswerden will. Weil sich zu wenige für ihn interessieren.
Dieser Ort, irgendwo im Nirgendwo, hat sogar eine eigene Adresse: Larson Barracks 453. Ein Außenposten jener US-Kaserne, die sich von 1945 bis 2006 westlich von Kitzingen befand. Heute hilft die Anschrift nicht wirklich, ans Ziel zu finden. In kaum einem Navi ist sie hinterlegt ist. Wieso auch? Den Stützpunkt gibt es nicht mehr, ausradiert auf sämtlichen militärischen und zivilen Landkarten, dafür inzwischen Attraktion auf Wander- und Freizeitkarten.
Eine der "Traumrunden" führt an dem verlassenen Ort vorbei
Heute führt an dem Gelände eine der "Traumrunden" des Landkreises vorbei. Viele wissen mit dem Ort nicht wirklich etwas anzufangen. Auf einem Infoschild des Kreises am Waldrand heißt es: "Während des Kalten Krieges sollen hier Pershing-2-Raketen gelagert worden sein."
Als die Sowjetunion Mitte der siebziger Jahre ihre auf Westeuropa gerichteten atomaren Mittelstreckenwaffen durch moderne SS-20-Raketen ersetzte, antworteten die USA ab 1983 mit der Stationierung von Atomraketen des Typs Pershing 2 in Deutschland. Das war die Logik der Abschreckung und des Muskelspiels im Kalten Krieg. Aber standen solche Raketen auch in Kitzingen? Gabi Drake war damals Verbindungsoffizierin der US-Armee in der Stadt, sie hielt Kontakt nach draußen, zu Politik und Presse, heute lebt sie mit ihrem Mann in Marktbreit.
Ruft man sie an, antwortet sie wie damals mit tiefer Stimme und in gewohnt offener Art: "Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich weiß es selbst nicht." Sie sei nie in dem Lager gewesen, es habe sie auch nicht interessiert, was da vor sich ging. Und: "Als Deutsche hatte ich keine Security Clearance." Ihr Arbeitgeber weihte sie wohl nicht in alle Geheimnisse ein.
Uwe Hartmann war ab Mitte der 1980er-Jahre als Übersetzer für die US-Armee tätig. Das Munitionslager hat er nie betreten, es war "streng isoliert". Aber auch er kannte die "Gerüchte unter Angestellten", das Gerede von den dort gelagerten Atomwaffen. Genau wie Roland Hoh. Lange bevor er 2014 zum Bürgermeister von Biebelried gewählt wurde, als das Lager noch scharf bewacht wurde, war Hoh "mal beruflich da oben". Brisantes hat er nicht gesehen.
Fakt bleibt: Keiner, mit dem man im Zuge der Recherche spricht, kann mit Sicherheit sagen, dass dort jemals Atomwaffen lagen. Keiner hat sie gesehen. Und der Kreis derer, die es bestätigen könnten, ist nicht allzu groß. Einige sind gestorben, andere zu lebenslanger Verschwiegenheit verpflichtet.
Und die Akten? Sie geben erst nach und nach ihre Geheimnisse preis. 2012 wurde ein "streng geheimer" Vermerk des Auswärtigen Amts von 1981 publik. Demnach hatten die USA seit Ende der Fünfzigerjahre "mit allen Verbündeten, die Streitkräfte in der Bundesrepublik unterhalten, Verträge über die Lagerung amerikanischer Atomwaffen im Bundesgebiet für den Bedarf dieser Verbündeten geschlossen, ohne je unsere Zustimmung dafür einzuholen". So zitierte es damals der "Spiegel". Die Lagerung erfolgte also hinter dem Rücken der Bonner Regierung. Und was trieb die US-Armee in Kitzingen?
Oberhalb von Kitzingen liegen die 30 000 Quadratmeter Sperrgebiet
Das Waldstück Klinge am Kitzinger Stadtrand, auf halber Strecke zwischen der Großen Kreisstadt und Kaltensondheim gelegen. Der Stacheldraht glänzt silbern in der Sonne. Eng schmiegt sich das Lager auf der Lichtung an den dichten Wald, 30 000 Quadratmeter Sperrgebiet. Im NATO-Jargon bekannt als Special Ammunition Site, kurz SAS. 78 dieser SAS gab es zu Zeiten des Kalten Kriegs, strategisch verteilt über ganz Deutschland.
Das Kitzinger Lager, errichtet um 1965, trug die Nummer 35. Heute ein gespenstischer Ort, früher einer der bestbewachten Stätten der Republik. Jeder in Kitzingen wusste um diesen Ort, hatte eine Ahnung von seinem explosiven Geheimnis. Geredet aber wurde darüber kaum. Man erinnert sich nicht, dass Kitzingen je Schauplatz von Anti-Atomwaffen-Demos gewesen wäre. Kitzingen war immer Provinz, die Unschuld vom Land, und vermutlich setzten die Amerikaner bewusst auf solche Standorte.
Ein Jeep der US-Armee griff unbedarfte Spaziergänger auf
Als unbedarftem Sonntagsspaziergänger am Rand des Kitzinger Klingenwalds konnte es einem früher passieren, dass quasi aus dem Nichts des offenen Feldes ein Jeep des US-Militärs auftauchte, darin zwei behelmte Soldaten, die Maschinenpistolen im Anschlag. Höflich, aber bestimmt forderten sie ihr verdutztes Gegenüber auf, ihnen auf die Dienststelle zu folgen. Dort wurden die Personalien aufgenommen, dann durfte man wieder gehen – nicht ohne die eindringliche Warnung, dass es sich hier um militärisches Sperrgebiet handle: Betreten streng verboten! Besser, man hielt sich dran.
Heute sind es Leute wie Christian Julius, die den Ort aufsuchen. Der Mann nennt sich "militärhistorisch interessiert", unter dem Pseudonym Kalter Krieger findet man seinen Kanal auf YouTube. Kaum einer in Deutschland kennt sich mit verlassenen Munitionslagern wie diesem so gut aus wie er. Von den zahlreichen auf ganz Deutschland verteilten Standorten existieren nur noch sieben oder acht, davon sind laut Julius bloß zwei, drei komplett erhalten. Mit der Materie, um die es hier ging, ist er vertraut.
Es ist ein sonniger Tag im September 2020, als Julius sich in sein Auto setzt und gut 380 Kilometer südwärts fährt. Am Ziel angekommen, muss es schnell gehen, bald wird die Sonne hinter dem Wald verschwinden. So erzählt es Julius in einem 16:53 Minuten dauernden YouTube-Video. Man sieht ihn in Nahaufnahme. Ein großgewachsener Mann Anfang 50 in olivgrüner Tarnkleidung und mit randloser Brille, das schwarze Stirnband tief in die Stoppelhaare geschoben. So steht er an diesem Tag vor dem noch immer mit rasiermesserscharfem Stacheldraht gesicherten Lager.
Auf dem Video sieht man, wie Christian Julius zunächst die Radarrichtstrahler passiert, die früher jeden erfassten, der sich dem Gelände näherte; dann schlüpft er durch ein Loch im Zaun – und steht Sekunden später im Wachlokal. Ein schmuckloser Raum, der noch Reste der Einrichtung und Technik birgt, in den Wänden Schießscharten, in der kleinen Küche eine Dunstabzugshaube Marke Siemens. Julius sagt: "Ich fühle mich wie Zuhause."
Mehrere solcher Anlagen hat Julius besucht, meist verbotenerweise, da sie offiziell gesperrt sind. Wenn ihn die Polizei aufgreift - die auch an diesem Tag im Kitzinger Wald vor der Anlage auftaucht -, kassiert er in der Regel eine Anzeige wegen Land- oder Hausfriedensbruchs.
Ende der Achtzigerjahre war dieser Christian Julius Wachsoldat im Atomwaffenlager Kellinghusen, eine Autostunde nördlich von Hamburg. So erzählt er es, wenn man ihn anruft. Die beiden Lager in Kitzingen und Kellinghusen waren baugleich: Wartungs- und Montagegebäude, Wachturm, Munitionsdepot und die wie Maulwurfshügel modellierten Erdbunker – alles identisch. Für wie wahrscheinlich hält er es, dass in diesen "NATO-Standardbunkern" auf der Kitzinger Anhöhe Atomwaffen gelagert waren?
Julius versteht die Frage nicht – weil es für ihn keine Frage ist, sondern Gewissheit. Im Kalten Krieg, so berichtet der ehemalige Wachsoldat, seien Atomwaffen im "Rotationsprinzip" verschoben worden, von einem Standort zum nächsten. Um den "Feind" zu verwirren, wurden auch jede Menge Attrappen durchs Land gefahren. Nur ein exklusiver Zirkel wusste, wo die echten Waffen lagen.
Julius ist sich sicher, dass auch die Bunker in Kitzingen zeitweilig solche Waffen bargen. Für diese Annahme spricht die Ausstattung und Bewehrung dieser Bunker. Das meiste haben die Amerikaner, später dann Plünderer mitgenommen. Aber die massive Panzerung der Bunker ist auch 14 Jahre nach der Räumung des Geländes noch mit Händen zu greifen. Vier Meter dicke Stahlbetonwände, vorgebaute Metallkäfige zur Abwehr panzerbrechender Waffen, sie wurden in den Achtzigerjahren angebracht, als der RAF-Terror in Deutschland seine Hochphase hatte. Eine zweistufige Schleuse mit Panzertüren. Das alles, sagt Julius, habe es wohl kaum gebraucht, um Pistolen oder Gewehre zu lagern.
Über Düsen an der Decke war der Raum mit Löschgas zu fluten
Wenn man – mit offizieller Genehmigung des Eigentümers – die Bunker selbst betritt, wirken die Räume erstaunlich unspektakulär: Wände und Boden aus kargem Beton, der typische Charme einer Lagerhalle. Erst mit der Ahnung und Fantasie, was hier womöglich verborgen war, entfalten sie ihre beklemmende Wirkung. Über Düsen an der Decke konnte die Halle mit Löschgas geflutet werden, ebenso bestand die Möglichkeit, Stacheldraht abzulassen, um den ganzen Raum unpassierbar zu machen. Aber was wurde hier, abgeschottet von der Öffentlichkeit, jetzt genau untergebracht?
Laut Julius waren es mobile atomare Kurzstreckenwaffen, sogenannte taktische Waffen, mit einer Reichweite von 100 bis 200 Kilometern und einer lokal begrenzten Sprengkraft von 0,2 bis 50 Kilotonnen. Sie hatten so viel Wucht wie 50 000 Tonnen TNT, aber nur die Größe eines Ölfasses. Das reichte, um militärische Ziele unter Beschuss zu nehmen und in Schutt und Asche zu legen – aber auch um Kitzingen dem Erdboden gleich zu machen. Eine zynische Strategie, wie Julius heute noch findet. „Die Vernichtung der eigenen Leute vor Ort wurde in Kauf genommen.“ Die Waffen, so sagt Julius, seien in der Regel bei Nacht mit Hubschraubern der US-Armee ein- und ausgeflogen worden, unbemerkt von der Bevölkerung.
Was geschieht nun mit Gelände und Bauten? Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), eine Anstalt des öffentlichen Rechts, die Areale wie das in Kitzingen nach dem Abzug der US-Armee für den Bund verwaltet, teilt auf Anfrage mit: "Es ist vorgesehen, die baulichen Anlagen bis 2022 größtenteils rückzubauen und zu entsiegeln." Das Areal soll naturschutzfachliche Ausgleichsfläche werden.
Wie soll man den Kalten Krieg erzählen - ohne solche Orte?
Geht es nach Christian Julius, würde die Anlage als Denkmal oder Mahnmal erhalten bleiben, weil sie beispielhaft und anschaulich die Geschichte des Kalten Kriegs erzählt. Es ist eine Geschichte gegenseitiger Abschreckung, die es so nicht mehr gibt, weil die Bedrohungslage derart diffus geworden ist, dass sie sich nicht mehr in Ost oder West verorten lässt. „Wie wollen Sie Ihren Kindern oder späteren Generationen diese Zeit erklären“, fragt Julius, „wenn solche Orte verschwinden?“ Es ist die Mischung aus Nostalgie und morbidem Charme, die von vielen verlassenen Orten Besitz ergreift, Orte, zurückgelassen in staubiger Einsamkeit. Sein Vorrat an Zukunft scheint noch nicht aufgebraucht.
Wir waren das Kanonenfutter mit atomar beladenen Haubitzen. Einziger Auftrag war, das Land an der damaligen innerdeutschen Grenze atomar zu verseuchen. Die erste Verteidigungslinie begann bei Heidelberg. Wäre es zum V-Fall gekommen, gäbe es hier nichts mehr. Nach der Wehrdienstszeit war ich aufgrund meiner guten Englischkenntnisse mehrmals als waffenkundiger Dolmetscher zur Wehrübung geladen. Vieles wussten wir, zum Schweigen verpflichtet. Auch die Schwere Zeit des RAF Terrors haben wir mit Bewachung von deutschen Munlagern verbracht. Uns ging mehr als einmal der A… auf Grundeis. Ich danke den Verantwortlichen, dass uns diese Idiotie mittlerweile erspart bleibt.
Wer nicht zu dieser Zeit gedient hat, kann diesen psychologischen Druck nicht ermessen. Ich möchte nicht mehr mit 43 Schuss G3 Munition Streife laufen. Das Offroad Gelände bei Bad Kissingen gehört auch zu diesen Orten. Das war aber schlechtest gesichert…
Kurz danach kam vom heutigen Golfplatz her ein Jeep mit 3 weiteren Soldaten angerast. Mit ihren Maschinenpistolen hatten sie zwar nicht direkt auf mich gezielt, aber es war klar, wer gemeint war.
Nachdem sie mich des Waldes "verwiesen" hatten, rief ich sofort die Polizei an. Der Beamte versprach mir, den Fall an die Stadtverwaltung weiterzugeben und kommentierte: "Da sieht man wieder, dass wir ein besetztes Land sind.".
Der von der Stadt beauftragte Förster beschied mir nach Begehung des Geländes, dass ich im Recht gewesen sei, was die Amerikaner aber nie interessieren würde.