Karl-Heinz Rügamer wundert sich. Und irgendwie auch nicht. Die aktuellen Geschehnisse in Afghanistan waren für ihn vorhersehbar – und hätten doch vermieden werden können.
Vier Mal war der Mainstockheimer in seiner aktiven Zeit als Bundeswehrsoldat am Hindukusch, weitere Einsätze in Somalia, im Indischen Ozean und auf dem Balkan komplettieren sein Berufsleben, das er 2011 beendete. Kaum ein Soldat war, bis zu seiner Pensionierung, so oft im Auslandseinsatz wie der heute 63-Jährige. Seine Erkenntnis aus all den Erfahrungen: Entweder ganz oder gar nicht.
Rügamer hat schöne und erschreckende Erinnerungen an Afghanistan. Bei seinem ersten Einsatz, kurz nachdem die Amerikaner zur Unterstützung der Friedensbemühungen in das Land kamen, war der Unwillen der Bevölkerung noch stark zu spüren. „Das ist eine ganz andere Kultur“, sagt er. „Ganz andere Werte.“ Rügamer erinnert sich an eine Fahrt mit der örtlichen Polizei und einer Ortskraft (Sprachmittler) auf dem Weg vom Camp Warehouse nach Kabul.
Ein Mann schleuderte mehrmals „Etwas“ auf die Straße, wie sich später herausstellte, den bereits toten Körper seiner behinderten Tochter. „Der Fahrer wollte vorbeifahren, ehe ich das Halten über den Sprachmittler gebot. Ich wollte den Mann zur nächsten Polizeistation bringen“, erinnert sich der Feldjäger. Der afghanische Polizist meinte, es sei allein die Sache des Vaters, wie er mit seiner Tochter umgeht. Dennoch wurde der Mann verhaftet und zur Polizeistation gebracht.
Aufbruchsstimmung
Ein paar Jahre später gab es sichtbare Fortschritte: Die ersten deutschen „Mädchen-Schulen“ hatten geöffnet, Brunnen in den ländlichen Gegenden wurden gebaut, in Kabul liefen Frauen ohne Schleier und mit lackierten Fingernägeln auf der Straße und konnten Ausbildungen beginnen. „Eine Aufbruchsstimmung war spürbar“, erinnert sich Rügamer. Alte Wurzeln wurden aufgebrochen, neue Wege beschritten, von denen vor allem die junge Generation profitierte. Und jetzt? War all das umsonst?
Auch wenn sich 20 Jahre lang anhören: Die Zeit reicht bei weitem nicht aus, um strukturelle und belastbare Veränderungen herbeizuführen, ist sich Rügamer sicher. Eine bis zwei Generationen brauche es seiner Meinung nach, bis sich eine Gesellschaft nachhaltig verändert hat, bis alte Wertvorstellungen aufgebrochen sind, bis sich die neuen Ideale in den Köpfen und Herzen einer Mehrheit festgesetzt haben. Einer Mehrheit, die für die Verteidigung dieser Werte dann auch zu kämpfen bereit ist. Mindestens eine Generation hätten die alliierten Kräfte deshalb vor Ort ausharren müssen, meint er. Oder den Auftrag erst gar nicht in Angriff nehmen sollen.
Was Rügamer am meisten ärgert: Dass die Politik nicht aus der Vergangenheit gelernt hat. Auch nach seinem Einsatz in Somalia übernahmen radikale Milizen die Herrschaft, kurz nachdem das letzte Kriegsschiff der NATO den Hafen verlassen hatte. Nach der Anordnung Präsident Trumps, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, sei die jetzige Entwicklung vorhersehbar gewesen.
Warum die Bundesregierung so lange mit der Evakuierung der Hilfskräfte gewartet hat, ist dem ehemaligen Soldaten schleierhaft. „Die Bundeswehr wäre garantiert einsatzbereit gewesen“, versichert er. Fallschirmjäger und das Einsatzkommando KSK wären in Deutschland bereit gestanden. Es fehlte nur das „go“ der Politik.
Kein Glauben an Amnestie
Den Ankündigungen der Taliban, eine Amnestie für alle Afghanen zu erlassen, die bei allen Nato-Streitkräften im Einsatz waren, schenkt er keinem Glauben. „Die Taliban sind radikale Glaubensmenschen“, sagt Rügamer und betont das Wort „radikal.“ Eine Amnestie widerspreche allem, was die Taliban ausmache.
Rügamer hat als Militärpolizist die afghanischen Streitkräfte mit ausgebildet, unter anderem auch die Personenschützer des ehemaligen Präsidenten Karsai. Dass sich die rund 300.000 Mann starke Armee den Taliban nicht entgegenstellte, erklärt er so: „Die meisten Menschen in Afghanistan glaubten einfach nicht an eine Zukunft mit westlichen Werten.“ Die 20 Jahre hatten nicht ausgereicht, um die alten Wertvorstellungen und Gesetzmäßigkeiten aus den Köpfen der Einheimischen zu bringen.
„Alles, was wir in Afghanistan schaffen wollten, ist uns im Nachhinein misslungen“, bilanziert der pensionierte Soldat frustriert. Der Abzug ist, seiner Meinung nach, Ausdruck eines einzigartigen politischen Versagens.
"sie glaub(t)en nicht an ... westliche Werte".
Vielleicht tun sie da teilweise gar nicht mal so schlecht dran - denn zu unseren "Werten" gehört es ja anscheinend auch, für ein paar Euro mehr langfristig zu zerstören was wir eigentlich zum Leben brauchen. Das ist denen in "Afghanistan" bis jetzt nicht gelungen...
und eigentlich ging es, wenn mich nicht alles täuscht, uns mit all unseren Werten ja schwerpunktmäßig darum, uns - verbrämt mit ein paar Goodies für ein paar bislang Unterprivilegierte - die Bodenschätze des Landes zu sichern.
Ich wette, es stehen schon Leute mit weniger Skrupeln bereit, sich die jetzt zu holen. Und "der Westen" wird (ohnmächtig) daneben stehen und fluchen (und ### auf die Werte, aber die interessieren eh keinen großen Geist).
Wie Herr Rügamer meinte: ganz oder gar nicht.
Sorry, ich bin heute wieder zynisch.
Wir sollten daraus die Konsequenz ziehen, dass der Wille dieser Menschen respektiert werden muss - mit allen daraus auch in Europa resultierenden Folgen.
Spätestens jetzt muss uns aber klar sein, dass wir uns auf die Amis nicht mehr verlassen können. Dass sie abziehen und ihre engsten Verbündeten bis zum Schluss im Unklaren lassen ist mehr als bemerkenswert. Wir müssen eine europäische Sicherheitpolitik aufbauen, die notfalls auch ohne USA auskommt.
Schwer vorstellbar. Ich wäre auch sehr überrascht, wenn Ihre ach so geliebten Grünen den Verteidigungshaushalt erhöhen müssten. Reagieren die Grünen bisher auf jede Ankündigung diesbezüglich mit Schnappatmung.
Und wen hätten sie in Europa den gerne als neuen durchsetzungsfähigen Partner? Putin etwa? Oder China?
Wir sind mit den USA als einzigen demokratischen verlässlichen Partner gut gefahren. Afghanistan ist noch nicht soweit. Demokratie kann man nicht herbeideligieren.
Wir machen die ganz bestimmt nicht katholisch!
https://www.youtube.com/watch?v=88R5aLuz97Q
wer glaubt, uns geht das nichts an, glaubt auch, dass der Zitronenfalter Zitronen faltet, wie man so schön sagt
die Amerikaner als "Friedensbemüher"
Vor kurzen sagten die Amis selbst sie seien nur nach Afghanistan, um Al Kaida auszulöschen, an eine Demokratie hätten sie nicht geglaubt.
Und wenn eine Bewustseinsänderung zu demokratischem Verhalten noch 1-2 Generationen gedauert hätte, heisst das noch 50,60 Mrd Euro ausgeben und noch mehr Tote Soldaten.
Wenn 300.000 gut ausgerüstete Soldaten vor 80.000 Taliban davonlaufen, ebenso hunderttausende wehrfähige junge Männer ins Ausland fliehen statt ihre Frauen, Mütter, Schwestern beschützen, muß man sich fragen warum sollen wir hier Geld und Menschenleben opfern, wenn das eigene Volk nicht für seine Freiheit einsteht.
Wenn man jetzt liest, dass eine Hungersnot droht kann man nur sagen: statt Mohn für Opium anzubauen, sollte man Getreide säen. Das kann man essen.
vielen Dank für die Hinweise! Wir haben den Fehler inzwischen korrigiert.
Freundliche Grüße
Lukas Will
Digitales Management
Also bitte nicht alles auf die Politik schieben, sondern die Fehler bei sich selbst suchen.
die ganze Sache war mMn von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil es mit ein bisschen "wasch mich aber mach mir den Pelz nicht nass" definitiv nicht geht, eine Partisanen-"Armee" zu besiegen (das sollte doch seit Vietnam, wo man sich deutlich mehr "Mühe gegeben" hatte als jetzt in "Afghanistan" hinreichend klar sein?!).
Bei dem Aufwand, den man tatsächlich (seitens der Politik, wohlgemerkt) bereit war zu treiben, hätte man mit dieser Aktion niemals anfangen dürfen. Bei Kleinem, wussten Sie übrigens, dass die Soldaten sich eine Menge Dinge des täglichen Bedarfes selber in vernünftiger Qualität zulegen mussten, da das Oberkommando das nicht fertiggebracht hat? Hier z. B. können Sie anfangen zu recherchieren: http://www.afghanistan-connection.de/ausruestung-allgemein/
Aber Spaß beiseite: Wenn's einmal passiert ist es ein Druckfehler. Wenn's dreimal passiert, Dummheit des Autors (pardon) oder klares Versagen des Korrektorats.