Freitag, 19. Januar. Es ist früher Nachmittag, als zwei Autos nördlich des Haßfurter Ortsteils Prappach auf einem Feldweg anhalten. Einige Vögel fliegen aufgescheucht davon. Sie waren damit beschäftigt, Reste von den Knochen eines toten Rehs abzufressen. Und ebendieser Kadaver ist auch das Ziel der beiden Autofahrer. Ihnen geht es um die Frage: Was ist mit dem Reh passiert? Und dabei – soviel sei verraten – gehen ihre Meinungen weit auseinander.
Einer der beiden Männer ist Jäger und fest überzeugt: Das muss ein Wolf gewesen sein, der das Reh gerissen hat. Der Name des Mannes ist der Redaktion bekannt, er war es auch, der das tote Tier einige Stunden zuvor entdeckt und die Medien informiert hatte. Namentlich möchte er in einem Bericht jedoch nicht genannt werden: Zu groß ist in der Jägerschaft die Angst vor radikalen Wolfsschützerinnen und -schützern.
Verhalten der Rehe hat sich verändert: Angst vor einem großen Raubtier?
Der andere ist Christian Sandner, ehrenamtlicher Netzwerker im Auftrag des Bayerischen Landesamtes für Umwelt (LfU). Sein Auftrag: Er soll sich von dem Jäger die Fundstelle zeigen lassen, Spuren dokumentieren und, wenn möglich, Proben am toten Reh nehmen, die dann auf Wolfs-DNA überprüft werden können. Allerdings zeigt sich Sandner schon vor Ort skeptisch: Er glaubt nicht, dass das Reh Opfer eines Wolfs geworden ist.
Doch wie kommt es dazu, dass die beiden Männer bei der Beobachtung des gleichen Fundortes zu so unterschiedlichen Einschätzungen kommen? Der Jäger argumentiert unter anderem mit dem Verhalten der Rehe in den vergangenen Tagen. "Ich habe es am Montag gemerkt: Die Rehe waren unruhig." Und er berichtet, auch anderen Revierinhabern sei aufgefallen, dass die Tiere "heimlicher" würden, sich seltener blicken lassen. Darin sieht er ein Anzeichen für die Anwesenheit eines größeren Räubers, vor dem sie Angst haben.
Spuren im Schnee: Jäger vermutet einen Kampf
Außerdem berichtet er, dass schon vor zwei Jahren in der Gegend zwei tote Rehe gefunden worden seien. "Da konnten wir's nicht zuordnen", sagt er. Vor vier bis sechs Wochen sei auch bei Hellingen eines gefunden worden. Mittlerweile könne man auch beobachten, dass der Rehwildbestand zurückgegangen sei.
Auch die Spurenlage vor Ort sieht seiner Meinung nach eindeutig aus: Das tote Reh liegt am Fuß eines leichten Abhangs, gleich neben einer Hecke. Ein Stück weiter oben am Hang finden sich in der ansonsten zugeschneiten Landschaft zwei größere Flecken, an denen deutlich der braune Boden durchscheint. Die Vermutung des Jägers: Einer der beiden Flecken ist der Ort, an dem das Reh lag, kurz bevor es gerissen wurde, bei dem anderen Fleck handelt es sich seiner Meinung nach um Kampfspuren.
Auch das Fraßbild deutet nach Einschätzung des Jägers auf einen Wolf hin: Alles ist abgefressen, nur die Wirbelsäule, Kopf und Hals sowie drei von vier Beinen liegen noch da. Das sei typisch, so der Jäger. Wenn es ein anderes Raubtier gewesen wäre, würde die Fundstelle anders aussehen, ist er überzeugt. Ein Fuchs sei zu klein, um ein Tier dieser Größe zu töten, ein wildernder Hund hätte niemals so viel fressen können und ein Luchs würde den Verdauungstrakt seiner Beutetiere nicht mitfressen. Doch Brustkorb und Bauch des Rehs bei Prappach sind leergefressen, von den inneren Organen ist nichts mehr übrig.
Zu kleine Füße: Christian Sandner sieht in den Fußspuren eher Füchse als einen Wolf
Christian Sandner kommt dennoch zu einem ganz anderen Ergebnis als der Jäger. Was ihm vor allem fehlt, sind Wolfsspuren. Denn dadurch, dass an diesem Tag Schnee liegt, sind die Spuren vieler Tiere gut zu erkennen. Darunter auch Spuren, die auf Raubtiere aus der Familie der Hunde hinweisen, aber keine, die groß genug wären, um von einem Wolf zu stammen.
Zwar weist der Jäger darauf hin, dass es am Morgen noch einmal geschneit hat – vielleicht sei ein Teil der Spuren dadurch wieder verschwunden oder wirke jetzt kleiner. Den ehrenamtlichen LfU-Netzwerker überzeugt das trotzdem nicht. Dazu kommt: Hätte ein Wolf das Reh gerissen, müssten sich die typischen Bissspuren am Hals finden, mit denen das große Raubtier seine Beute normalerweise tötet. Doch davon ist nichts zu sehen.
Und auch das Fraßbild überzeugt Sandner nicht. Denn: Wölfe machen sich selten die Mühe, Knochen sauber abzunagen. Vielmehr beißen sie mit ihren kräftigen Zähnen ganze Stücke heraus, sodass sich in ihrem Kot oft noch Knochensplitter finden. Doch größere Stücke von kräftigeren Knochen sind bei dem Reh nicht herausgebissen worden. Was dagegen sehr gut zu Füchsen passen würde, ist das fehlende Bein: Füchse verschleppen gerne Teile eines toten Tiers als Vorräte.
Haben sich Füchse über das Opfer eines Wildunfalls hergemacht?
Dennoch nimmt Sandner eine DNA-Probe. Später am Tag schickt er Bilder und seinen Bericht ans LfU. Das Landesamt muss dann aufgrund dieser Informationen entscheiden, ob es sich lohnt, die Probe im Labor untersuchen zu lassen. Die Antwort kommt zwei Tage später und ist für Sandner wenig überraschend: Ähnlich wie er sieht die Behörde keinen Anhaltspunkt dafür, dass ein großer Beutegreifer das Reh erlegt hat. Daher wird die Probe nicht eingeschickt.
Doch wie ist das Reh dann zu Tode gekommen? Christian Sandner vermutet, dass es bereits vorher verletzt war. Für möglich hält er einen nicht gemeldeten Wildunfall, vielleicht wurde das Tier auf der nahegelegenen Straße angefahren, die von Prappach zur Staatsstraße zwischen Oberhohenried und Königsberg führt. Dann könnte es sich im verletzten Zustand noch ein paar hundert Meter weit geschleppt haben, bevor es entkräftet zusammenbrach und somit zum Festmahl für die Füchse wurde, deren Spuren an der Fundstelle zahlreich zu sehen sind.
Dennoch liegt die Frage nahe: Was würde denn passieren, wenn tatsächlich bei einem toten Wildtier nachgewiesen würde, dass es von einem Wolf gerissen wurde? "Nichts", meint Sandner und erklärt: "Es gibt Wölfe in Deutschland. Und die sollen nach Möglichkeit Rehe und Wildschweine fressen." Sprich: Von irgendetwas müssen sich heimische Raubtiere ja ernähren. Solange sie Wildtiere fressen und es keine Angriffe auf Menschen oder deren Haus- und Nutztiere gibt, besteht auch kein Handlungsbedarf, abgesehen davon, dass das LfU Nutztierhalterinnen und -halter in der näheren Umgebung warnen würde, dass sich ein großer Beutegreifer in der Gegend aufhält.
Dem Jäger, der das tote Reh bei Prappach gefunden hat, reicht das nicht aus. Auf seinem Handy zeigt er ein Video, das ein Autofahrer in der Nähe von Coburg gefilmt hat. Darauf zu sehen ist allem Anschein nach ein Wolf, der ein Reh tötet, und sich dabei überhaupt nicht davon beirren lässt, dass der filmende Autofahrer mit eingeschalteten Frontscheinwerfern nur wenige Meter von ihm entfernt ist. Die Meinung des Jägers: "Die Wölfe gehören bejagt, sodass sie Angst haben vor den Leuten. Man muss sie ja deswegen nicht ausrotten."