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Zeil
Schicksal Verschleppung: Vor 80 Jahren lebten über 100 ukrainische Frauen in Zeil am Main
Die Ukrainerinnen mussten in der Boschfertigung und in der Landwirtschaft arbeiten. Offensichtlich wurden sie relativ gut von der Bevölkerung behandelt.
Ukrainische Frauen der Zeiler Boschfertigung bei einer Weihnachtsfeier
Foto: Archiv Ludwig Leisentritt | Ukrainische Frauen der Zeiler Boschfertigung bei einer Weihnachtsfeier
Bearbeitet von Ludwig Leisentritt
 |  aktualisiert: 08.02.2024 17:48 Uhr

Derzeit sind Millionen ukrainische Frauen mit ihren Kindern auf der Flucht. In Deutschland sind gegenwärtig rund 700.000 Flüchtlinge angekommen, die hier Schutz, Unterkunft und auch Arbeit suchen. Es kann gut sein, dass einige von ihnen wissen, dass es schon ihre Mütter, Großmütter, Urgroßmütter oder sonstige weibliche Verwandte vor 80 Jahren nach Deutschland verschlagen hat: Nach Zeil am Main, wo sie arbeiten mussten. Im hiesigen Stadtarchiv gibt es ein penibel geführtes Verzeichnis der damals in Zeil arbeitenden Frauen.

Aus der Weberei wird ein Rüstungsbetrieb - und der braucht Personal

Im Februar 1942 musste die Weberei (heute Marken-Outlet) ihren Betrieb einstellen. Die Webstühle wurden in den Keller verbracht und mit der Produktion kriegswichtiger Zündkerzen begonnen. Einige Webmeister mussten sich im 1939 gegründeten Boschwerk in Bamberg ausbilden lassen. Der Zeiler Rüstungsbetrieb nannte sich etwas sperrig „Boschfertigung“.

Anastasia mit Richard Schneider. Die Ukrainerin Anastasia Oljinyk erzählte  dem Autor Ludwig Leisentritt (rechts) ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin, aber auch von ihrem Leben nach dem Krieg in Bischofsheim.
Foto: Archiv Ludwig Leisentritt | Anastasia mit Richard Schneider. Die Ukrainerin Anastasia Oljinyk erzählte dem Autor Ludwig Leisentritt (rechts) ihre Erlebnisse als Zwangsarbeiterin, aber auch von ihrem Leben nach dem Krieg in Bischofsheim.

Auf Befehl des in Haßfurt geborenen Fritz Sauckel wurden aus den besetzten Gebieten mehrere Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland verschleppt. Schätzungsweise etwa eine Million stammten aus der Ukraine. Sauckel war während des Dritten Reiches Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz. Der „größter Sklavenhalter seit den Pharaonen“ wurde 1945 in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt.

Verschleppt oder mit falschen Versprechungen gelockt

Die für die Boschfertigung eingesetzten Frauen und Mädchen aus der Ukraine trafen im Juni 1942 mit dem Zug in Zeil ein. Einige von ihnen kamen barfuß an. Ihre wenigen Habseligkeiten trugen sie in einem Tuch eingehüllt bei sich. In ihrer von der deutschen Wehrmacht besetzten Heimat waren sie unter falschen Voraussetzungen für die Arbeit in Deutschland angeworben worden. Man sagte ihnen, sie würden lediglich für einen Ernteeinsatz in Deutschland benötigt, weil viele Männer an der Front seien. Auch in anderen Orten wurden Mädchen und Frauen sowie im geringeren Umfang auch Männer aus der Ukraine zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Sie sollten fehlende Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ersetzen, vor allem, wenn Bäuerinnen schwanger waren oder ein Kind erwarteten. Um sie in Sicherheit zu wiegen, dass alles nur ein kurzfristiger Arbeitseinsatz sei, riet man ihnen, nur Arbeitskleidung mitzunehmen. Nicht alle vertrauten diesen Worten. Manche Ukrainer waren nicht gut auf die Russen zu sprechen und gingen nicht ungern nach Deutschland. Wer allerdings die Reise nicht freiwillig antrat, wurde später zwangsweise Richtung Westen deportiert.

Zunächst wurden die Angekommenen im heute nicht mehr vorhandenen Schützenhaus unterhalb des Kapellenberges untergebracht. Es war eigens für sie hergerichtet worden. Später quartierte man die Frauen im Keller der Weberei ein, wo doppelstöckige Bettgestelle eingebaut und eine Betriebsküche eingerichtet waren. Um die Verpflegung sicher zu stellen, wurde zeitweise eine Schweinemast betrieben.

Sieben junge ukrainische Frauen ließen sich einst im Zeiler Fotoatelier von Adam Hofmann ablichten.
Foto: Archiv Ludwig Leisentritt | Sieben junge ukrainische Frauen ließen sich einst im Zeiler Fotoatelier von Adam Hofmann ablichten.

Auch wenn die Arbeit zumeist schwer und die Behandlung manchmal nicht immer korrekt war, hatten die Arbeiterinnen auf den Bauernhöfen, - schon wegen der Ernährung - ein besseres Leben als jene in der Fabrik. Daneben arbeiteten Ukrainer auch bei den Zeiler Firmen Mölter, Weinig, den zwei Sägewerken und der Gärtnerei Burger.

Manche Ukrainerinnen haben sogar in privaten Haushalten mitgeholfen

Abends nach Feierabend hörte man sie häufig zur Balalaika wehmütige Lieder ihrer Heimat singen. Während sie tagsüber eine einheitliche Montur tragen mussten, konnten sie sich nach Feierabend in ihren mitgebrachten, selbstgenähten oder geschenkten Kleidern bewegen. Das Verhältnis mit den deutschen Arbeitskameradinnen war zumeist recht kollegial. Es deutet Einiges darauf hin, dass die jungen Frauen relativ viel Freizügigkeit genossen haben und die Einheimischen ihnen heimlich so manches zusteckten. Einige verdienten sich neben ihrer Beschäftigung bei Bosch noch Geld oder Naturalien bei Zeiler Handwerkern, Landwirten oder in privaten Haushalten.

Nach einer nach dem Krieg erstellten Aufstellung, waren zwischen Oktober 1942 und dem Ende des Krieges im April 1945 zwischen 100 und 150 Personen im Rahmen des "Ostarbeitereinsatzes Boschfertigung" in Zeil beschäftigt. Etwa 90 Prozent von ihnen waren Frauen, zumeist im Alter zwischen 20-25 Jahren.

Einige Zwangsarbeiterinnen kamen schwanger nach Zeil. Eine Frau hatte ihren 10-jährigen Sohn dabei. Rund ein Dutzend Kinder sind bis 1944 hier in Deutschland – davon zwei in Zeil - zur Welt gekommen. Auf Wunsch der wohl orthodoxen Mütter taufte 1944 der Geistliche Rat Bernhard Rüdenauer neun Kinder. Er konnte damals von den Ukrainerinnen nicht erfahren, wo ihre Babys auf die Welt gebracht worden sind. Rüdenauer vermutete, dass dies in einem Mütterheim bei Scheßlitz geschah. Die Namen sind im Taufbuch des Zeiler Pfarramtes eingetragen. Kinderwägen und Zubehör erhielten die Frauen von Zeiler Bürgern geschenkt. Stadtpfarrer Rüdenauer hielt in den Kriegsjahren für die Gefangenen und den Zwangsarbeitern Gottesdienste in der Anna-Kapelle ab.

Immer Sorge vor Nazi-Funktionären

Die privaten Arbeitgeber mussten immer damit rechnen, dass Polizei oder Nazi-Funktionäre auftauchen, um bei den beschäftigten Ostarbeitern Kontrollen durchzuführen. Einmal kam ein Zeiler Gendarm hinzu, als Zwangsarbeiterinnen beim Mittagstisch mit den Angehörigen der Familie Nikolaus Schneider in Bischofsheim das Essen einnahmen. Er machte dem "Nickel“, der auch Bürgermeister war, Vorhaltungen, weil die "Russenmenschen" mit am Tisch saßen. Schneider jedoch verteidigte sein Verhalten mit dem Hinweis, dass er mit diesen Frauen auf dem Feld arbeite und es recht und billig sei, dass sie mit ihm und seiner Familie auch am Tisch mitessen. Der Ordnungshüter bestand jedoch darauf, dass die Frauen ihr Essen draußen auf der Treppe einnehmen müssen.

Ein andermal führte ein Vorarbeiter der Ostarbeitergruppe ein Arbeitskommando nach Bischofsheim zum Ernteeinsatz. Der Landwirt verpflegte die Leute nicht nur, sondern gab ihnen auch einige Lebensmittel mit auf den Weg. Auf dem Heimweg durch die Brühlsteige stieß ein Polizist auf die Gruppe. Er war völlig außer sich und nahm den Frauen das Essen ab. Der Landwirt war dann aber froh, dass der Ordnungshüter bei den Nazis keine Meldung machte.

Nach dem Kriegsende nichts Gutes von Russland erwartet

Als der Krieg zu Ende war, traten die meisten Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland und Polen auf eigene Faust ihre Heimreise an. Ende August – fast vier Monate nach dem Einmarsch des amerikanischen Militärs - verlangte ein russischer Oberst im Rathaus, dass alle noch in Zeil befindlichen Russen und Ukrainer notfalls zwangsweise in die Hitlerkaserne in Schweinfurt zu schaffen seien, von wo aus ihr Heimtransport stattfinden sollte. In weiser Voraussicht versuchten sich einige diesem Abtransport zu entziehen, indem sie ihre Quartiere verließen. Sie ahnten wohl, dass in Russland nichts Gutes auf sie wartete. Als der Lastwagen am Marktplatz vorfuhr, waren alle elf Leute verschwunden. Nun wurden die Quartier- und Arbeitgeber Nikolaus Veit, Johann Bank, Philipp Vogel und Jakob Basel aufgefordert, einen Wiedereinzug beziehungsweise eine Arbeitsaufnahme nicht mehr zu gestatten.

In Zeil arbeitete Maria Kozan – ähnlich wie Anastasia Olijnyk - in einem Bauernhaus in Bischofsheim als Magd. Beide stammten aus Galizien. Sie waren die einzigen, welche nach Kriegsende nicht die Heimreise antraten. Maria Kozan, die 1921 geboren wurde, verzog später nach Zeil und arbeitete bei Telefunken. Sie verlebt gegenwärtig hochbetagt ihren Lebensabend in einem Pflegeheim im Landkreis.

Anastasia Oljinyk blieb bis zu ihrem Lebensende in Zeil

Anastasia Oljinyk war 1941 nach Bischofsheim gekommen. Die Ukrainerin blieb auch nach dem Krieg bei der Familie Nikolaus Schneider. Über 60 Jahre war sie in der Landwirtschaft und im Haushalt tätig. Auf Antrag wurde ihr 1970 die Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland bewilligt. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützte sie ihre Verwandten in Galizien. Als sie einmal 1000 Euro zu ihren Verwandten schickte, sah sich die kleine ländliche Bank zunächst außerstande, die harte Westmark in der üblichen Landeswährung auszuzahlen. Die einstige Zwangsarbeiterin verbrachte inmitten der Familie ihren Lebensabend, bis sie 2006 im Alter von fast 87 Jahren verstarb. Die Kinder und Enkel, die sie mit aufzog, dankten ihrer „Nastia“ mit einem schönen Grabstein.

Nur wenige Frauen meldeten sich, um eine Entschädigung für ihre Zwangsarbeit in Zeil zu bekommen.
Foto: Archiv Ludwig Leisentritt | Nur wenige Frauen meldeten sich, um eine Entschädigung für ihre Zwangsarbeit in Zeil zu bekommen.

Obwohl die heimgereisten Mädchen und Frauen versprachen, in Verbindung zu bleiben, gab es nach 1945 kein Lebenszeichen von ihnen. Einige ahnten, dass sie als ehemalige Zwangsarbeiterinnen in Deutschland nach ihrer Rückkehr in Russland ein ungewisses Schicksal erwartet. Sie wurden zumeist vom sowjetischen Sicherheitsdienst verhaftet und verhört. Die meisten wurden als Kollaborateurinnen behandelt und wiederum zur Zwangsarbeit – nun in Russland - eingesetzt. Bestätigt wird dies durch ein Erlebnis des Zeiler ehemaligen Stadtrates Alfons Schellenberger, der 1946 während seiner Gefangenschaft in Russland, etwa 4000 Kilometer von Zeil entfernt, auf einige dieser Arbeiterinnen traf.

Wie Alfons Schellenberger in russischer Gefangenschaft "Zeiler" Ukrainerinnen begegnet

Beim Kohleausladen hinter dem Ural entdeckte er ganz in seiner Nähe auf einem Waggon ukrainische Mädchen in der typischen Wattekleidung bei der Arbeit. Der Zeiler merkte bald, dass diese Frauen auch deutsch verstanden, und auf Befragen erfuhr er dann, dass sie während des Krieges in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Bei Nachfragen nach dem genauen Ort gab die Ukrainerin an, in Zeil in der Weberei für die Firma Bosch gearbeitet zu haben und sich in ihrer Freizeit beim Glasermeister Lorenz Wittig in der Bamberger-Straße ein Zubrot durch Hausarbeiten verdiente. Der Zeiler erfuhr so erstmals etwas über den Einmarsch der Amerikaner und den Umfang der Kriegsschäden in seiner Stadt.

Namhafte Unternehmen der deutschen Industrie erklärten sich Ende der 1990er Jahre bereit, für die einstigen Zwangsarbeiter Entschädigungen zu bezahlen. Zwischen 1998 und 2003 gingen bei der Zeiler Stadtverwaltung und auch beim Staatsarchiv Würzburg einige Anfragen ukrainischer Zwangsarbeiterinnen ein. Sie baten um eine Bestätigung, dass sie während des Krieges in der Zeiler Boschfertigung gearbeitet haben. Fast immer stimmten ihre Angaben (Name, Geburtsdatum und Geburtsort) mit den Aufzeichnungen aus dem Zeiler Stadtarchiv überein. Ihnen wurde aus dem Fond der Industrie der Betrag von 2556 Euro überweisen.

Noch immer gibt es sie, die Gedenktafel für die im April 1945 ums Leben gekommene Alexandra Tretjak.
Foto: Archiv Ludwig Leisentritt | Noch immer gibt es sie, die Gedenktafel für die im April 1945 ums Leben gekommene Alexandra Tretjak.

Eine Gedenktafel vor der Aussegnungshalle im Kreuzfriedhof erinnert heute noch nach fast 80 Jahren an die bei der Rüstungsfirma Bosch beschäftigte 21-jährige ukrainische Zwangsarbeiterin Alexandra Tretjak. Sie war am 12. April 1945 bei einem Angriff auf der Brücke zur ehemaligen Weberei ums Leben gekommen. Obwohl die Tote verheiratet war und in Zeil auch ihre kleine Tochter bei sich hatte, ist es nie gelungen, mit Angehörigen Kontakt aufzunehmen. Ihr Grab, das 1969 wegen einer Umgestaltung des Friedhofes eingeebnet werden musste, ist viele Jahre von Maria Leisentritt gepflegt worden.

 
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