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Ermershausen
Rebellendorf in den Haßbergen: Drei Ermershäuser erzählen vom Widerstand gegen den Staat
Die Gemeinde ist nun offiziell "Ort der Demokratie in Bayern". Wir lassen drei Beteiligte zu Wort kommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven von ihren Erfahrungen berichten.
Nach der Polizeiaktion in Ermershausen am 19. Mai 1978 gingen die Bürger der Gemeinde auf die Barrikaden. Heute ist das einstige Rebellendorf 'Ort der Demokratie in Bayern'.
Foto: Archiv Gemeinde Ermershausen | Nach der Polizeiaktion in Ermershausen am 19. Mai 1978 gingen die Bürger der Gemeinde auf die Barrikaden. Heute ist das einstige Rebellendorf "Ort der Demokratie in Bayern".
Lukas Reinhardt
 |  aktualisiert: 08.02.2024 16:43 Uhr

Geschichte wird von den Siegern geschrieben, heißt es. Und die Ermershäuser zählen zu den Siegern. Sie nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand und lehnten sich auf gegen den bayerischen Staat, als ihr eigenständiger Ort im Zuge der bayerischen Gebietsreform in den 1970-er Jahren Teil der Marktgemeinde Maroldsweisach wurde. Trauriger Höhepunkt war die Nacht zum 19. Mai 1978. Hochgerüstete Hundertschaften umstellten damals das Rathaus in Ermershausen und schafften die zurückgehaltenen Gemeindeakten aus der Kanzlei.

Doch die Jahre des Widerstandes haben sich ausgezahlt, dafür steht nicht nur die 1994 zurückgewonnene Selbstständigkeit. Heute ist Ermershausen nicht mehr das Dorf der Aufständischen, sondern "Ort der Demokratie in Bayern". Das ist nun, seit dem offiziellen Festakt in München, endgültig in den Geschichtsbüchern verankert: Am 13. Oktober würdigte Landtagspräsidentin Ilse Aigner vor Vertretern der Gemeinde den langen Kampf der Ermershäuser.  Für viele eine Genugtuung. Hier erzählen drei Ermershäuser, wie diese Zeit sie geprägt hat.

Walter Herold (65 Jahre): Als Polizist im persönlichen Zwiespalt

"Als die Bereitschaftspolizei in der Nacht zum 19. Mai 1978 mit ihren Hundertschaften in Ermershausen einrückte, schlief ich bereits. Rufe schreckten mich auf. Ich eilte zum Fenster. Von dort, dem Rathaus direkt gegenüber gelegen, blickte ich auf das Geschehen: Polizisten hatte den Platz abgeriegelt, das Gebäude umstellt, die Tür zur Kanzlei aufgebrochen. Nach und nach schleppten sie Aktenbündel oder gleich ganze Schubladen aus dem Rathaus. Alles landete auf einem Lastwagen, der schließlich davonfuhr.

Die Bürger eilten herbei. Wut und Verzweiflung machten sich breit. Ich blieb am Fenster stehen. Versteinert. Als Polizist war ich dem Freistaat Bayern zur Loyalität verpflichtet. Doch schon damals wusste ich: Das, was ich gerade sah, war falsch.

Walter Herold ist pensionierter Polizist und sitzt heute im Gemeinderat von Ermershausen. Waren damals Aktionen geplant, sah er nicht aus dem Fenster.
Foto: Lukas Reinhardt | Walter Herold ist pensionierter Polizist und sitzt heute im Gemeinderat von Ermershausen. Waren damals Aktionen geplant, sah er nicht aus dem Fenster.

Ich war 17 Jahre alt, als ich mich entschied, Polizist zu werden. Zugegeben, es war nicht die erste Wahl. Doch am Ende wurde es die Bayerische Grenzpolizei. 1973 fing meine Ausbildung an. Mit dem Eid auf die bayerische Verfassung begann auch der Zwiespalt, der lange Zeit mein Leben bestimmen sollte: Als Polizist in einem Ort zu leben, in dem sich Freunde und Familie gegen den Staat auflehnen, dessen Vorgehen man selber aber nicht vertritt, ist nicht leicht.

Ich bin in Birkenfeld geboren und aufgewachsen, nicht in Ermershausen. Meine Frau schon. Als 1977 unser Sohn zur Welt kam, zogen wir in die Wohnung im Obergeschoss des Ermershäuser Rathauses. Gegenüber lebten die Schwiegereltern. Sie hatten eine Bäckerei und einen Dorfladen. Wenn sich dort die Leute trafen und ich den Raum betrat, wurde es manchmal unangenehm still. Nicht jeder traute mir: Für viele war ich der Polizist.

"Mit dem Eid auf die bayerische Verfassung begann auch der Zwiespalt."
Walter Herold

Meinen Dienst verrichtete ich an der innerdeutschen Grenze in Bad Königshofen. Für manchen Kollegen war ich derjenige, der immer wegsah. Nachdem in Ermershausen mal wieder eine Aktion gelaufen war, zitierte mein Chef mich in sein Büro, wo zwei Sonderermittler warteten. ‚Wir nehmen Ihnen nicht ab, dass Sie nichts gesehen haben!‘, fuhr der eine mich an. Dieser Moment hat sich eingebrannt in mein Gedächtnis.

Die Nacht zum 19. Mai 1978, als hunderte Polizisten die Zufahrtsstraßen nach Ermershausen und den Rathausplatz der Gemeinde absperren.
Foto: MP | Die Nacht zum 19. Mai 1978, als hunderte Polizisten die Zufahrtsstraßen nach Ermershausen und den Rathausplatz der Gemeinde absperren.

Das, was der Polizeieinsatz mit seiner Härte erreichen sollte, nämlich den Widerstand zu brechen, schlug ins Gegenteil um. Er stärkte unseren Zusammenhalt. Auch ich habe mich an Protestaktionen beteiligt, nicht aber an strafbaren Handlungen. Die Selbstständigkeit von Ermershausen habe ich immer unterstützt - auch wenn ich nie so konnte, wie ich gerne wollte. Umso ergreifender war die Silvesternacht, die mit dem Jahr 1994 auch die lange ersehnte Unabhängigkeit von Ermershausen einläutete. Hier bin ich heute fest verankert.

Mit der Zeit habe ich auch bei der Polizei meinen Platz gefunden. Ich glaube, dass der jahrelange Zwiespalt aus mir einen besseren Polizisten gemacht hat. Ein Beruf, den ich bis zu meiner Pensionierung immer gerne ausgeübt habe."

Lydia Steuter (78 Jahre): Der Willkür des Staates ausgesetzt

"Mit Helmen, Schlagstöcken und Schilden standen die Polizisten auf dem Rathausplatz - und ich genau vor ihnen. Ein gespenstischer Anblick. Ermershausen war abgeriegelt, über 1800 uniformierte Polizisten im Einsatz. Damals, so traurig es klingt, ist mein Glaube in die Demokratie verloren gegangen. Es ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man der Willkür des Staates ausgesetzt ist. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein.

Für mich markierte diese Nacht einen Wendepunkt. Lange Zeit hatte ich mich aus dem Ganzen herausgehalten. Mein Mann war Beamter. Ich wollte nicht, dass ihm Ärger droht. 1977 waren wir nach Ermershausen gezogen. Zuvor hatte er in Birkenfeld seine erste Stelle als Lehrer angetreten. Doch mit meiner Zurückhaltung war nach dem Polizeieinsatz Schluss.

Lydia Steuter war Vorsitzende des Frauenkreises Ermershausen. Die heute 78-Jährige hat den Widerstand gegen die Gebietsreform auf ihre Weise mitgeprägt.
Foto: Lukas Reinhardt | Lydia Steuter war Vorsitzende des Frauenkreises Ermershausen. Die heute 78-Jährige hat den Widerstand gegen die Gebietsreform auf ihre Weise mitgeprägt.

Wir gründeten den Frauenkreis Ermershausen. Ich wurde Vorsitzende von rund 40 Mitgliedern. Gemeinsam überlegten wir, was wir tun könnten. Gewalt war keine Option, Autos anzuzünden und Barrikaden zu errichten nicht unser Ziel. Also sammelten wir Unterschriften, 500 an der Zahl, und schickten sie Franz-Josef Strauß. Außer ein paar vertröstenden Worten hatte der natürlich nicht viel übrig für unser Anliegen. Also stoppten wir die Fahrzeugkolone des damaligen Justizministers Vogel, die nach einem Besuch in Maroldsweisach durch Ermershausen rollte. Wir klammerten uns an jeden Strohhalm in Griffweite.

Vom Staatlichen Schulamt kam schon bald die erste Drohung: Eine Klasse könne man nicht in den Bayerischen Wald versetzen, einen Lehrer schon, hieß es hinter vorgehaltener Hand in Richtung meines Mannes. Mein Einsatz für die Belange von Ermershausen war dem Staat zunehmend ein Dorn im Auge.

"Mein Einsatz für die Belange von Ermershausen war dem Staat zunehmend ein Dorn im Auge."
Lydia Steuter

Als eines Tages zwei Mitarbeiterinnen der Gemeinde Maroldsweisach nach Ermershausen kamen, bildete sich um sie eine Menschentraube. Auch ich eilte zum Rathaus. Es fielen böse Worte gegen die beiden Frauen. Worte, die man nicht sagen sollte. Nicht aber von meiner Seite. Und trotzdem lag wenige Wochen später eine Vorladung in meinem Briefkasten. Wegen Nötigung sollte ich vor Gericht erscheinen. Der Richter in Haßfurt sprach Recht. Mit Gerechtigkeit hatte das allerdings nichts zu tun. Obwohl zehn Zeugen meine Unschuld beteuerten, glaubte er den beiden Mitarbeitern. Ich wurde zu einer Geldstrafe verurteilt.

Protest auf der Straße: Die Beharrlichkeit der Bürgerinnen und Bürger von Ermershausen - ob jung oder alt, Mann oder Frau - zahlte sich am Ende aus.
Foto: Hanns Friedrich | Protest auf der Straße: Die Beharrlichkeit der Bürgerinnen und Bürger von Ermershausen - ob jung oder alt, Mann oder Frau - zahlte sich am Ende aus.

Doch ich kämpfte gegen diese erneute Willkür, bis das Verfahren schließlich doch eingestellt wurde. Manchmal hilft es, wenn man den Justizminister kennt, weil man zwei Jahre zuvor dessen Fahrzeugkolone gestoppt hatte. Die Jahre waren aufreibend, das Anliegen zeitintensiv. Die Familie kam oft zu kurz, das erkenne ich nun im Nachhinein. Doch blickt man auf unseren Erfolg, dann hat sich der Einsatz gelohnt.“

Theo Vey (63): Der Zusammenhalt zahlte sich aus 

"Ich saß gerade in einem Bus in Richtung des beschaulichen Schwarzwalds, als in Ermershausen der Teufel losbrach. Die Landjugend unserer Gemeinde, der auch ich angehörte, war gegen 3.30 Uhr in besagter Nacht zu einem Ausflug gen Süden aufgebrochen. Eine halbe Stunde, nachdem wir das Dorf verlassen hatten, standen die hochgerüsteten Hundertschaften der Polizei auf dem Rathausplatz.

Wir, das waren rund 50 junge Leute im Alter von 15 bis 25 Jahren, erfuhren erst nach unserer Ankunft, am Abend des 19. Mai 1978, von dem Überfall. Damals gab es eben noch keine Handys. Ein Teil unserer Gruppe wollte direkt nach Hause fahren. Doch wir entschieden uns, bis zum nächsten Morgen zu warten. Was hätten wir schon ausrichten können?

Theo Vey war mit der Landjugend im Schwarzwald unterwegs, als die Polizei den Rathausplatz besetzte. Beharrlichkeit war seiner Meinung nach das Mittel zum Erfolg.
Foto: Lukas Reinhardt | Theo Vey war mit der Landjugend im Schwarzwald unterwegs, als die Polizei den Rathausplatz besetzte. Beharrlichkeit war seiner Meinung nach das Mittel zum Erfolg.

Seither hält sich die Erzählung, dass die Polizei den Zeitpunkt abgepasst habe, bis die Landjugend Ermershausen verlassen hat. Ob das wirklich zutrifft, weiß ich nicht. Wir waren keine Unruhestifter und Krawallbrüder. Und wir wurden auch keine.

Ich bin in Ermershausen geboren und aufgewachsen. Nach der Konfirmation, so war es in unserer Gemeinde Tradition, trat man der Evangelischen Landjugend bei. Hier herrscht ein großer Zusammenhalt, wie im Ort selbst. Man nahm die Jüngeren unter die Fittiche. Das formte und stärkte das Gemeinschaftsgefühl.

"Auch ich trat in die CSU ein, wie viele andere natürlich nicht aus Überzeugung."
Theo Vey

Der unverhältnismäßige Polizeieinsatz verstärkte dieses bestehende Gefühl zusätzlich. Für viele Bürger war diese Nacht eine Initialzündung, auch für mich. In vorderster Front gekämpft habe ich trotzdem nie. Doch unser damaliger Bürgermeister Adolf Höhn hat nie aufgegeben. Es war diese Beharrlichkeit, von ihm und unserer gesamten Gemeinde, die sich am Ende ausgezahlt hat.

Infolge des Polizeieinsatzes wuchs die Wut der Ermershäuser. Sie sahen sich staatlicher Willkür ausgesetzt. 
Foto: Archiv Gemeinde Ermershausen | Infolge des Polizeieinsatzes wuchs die Wut der Ermershäuser. Sie sahen sich staatlicher Willkür ausgesetzt. 

Unser klügster Schachzug war damals sicherlich die Gründung eines CSU-Ortsverbandes, unterstützt von Sebastian Freiherr von Rothenhan. Damals wurde uns klar: Wir können nur etwas verändern, wenn wir die Gegner von innen heraus konfrontieren. In Kürze zählte der Ortsverband 278 Mitglieder - und wurde so zum größten im Landkreis Haßberge. Auch ich trat ein, wie viele andere natürlich nicht aus Überzeugung. Zu lange kämpften wir schon gegen die CSU, die als Landesregierung die Gebietsreform erst durchgesetzt hatte. Mit diesem politischen Pfund konnte Ermershausen nun um seine Eigenständigkeit ringen – mit Erfolg, wie wir heute wissen.

Für mich war diese Zeit aufreibend. Doch wenn man sieht, dass Ermershausen inzwischen Ort der Demokratie ist, fühlt man sich bestärkt: Wir waren auf der richtigen Seite der Geschichte."

 
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Kommentare
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  • K. K.
    Wer heute mal nach Ermershausen kommt

    oder durchfährt, sollte auf jeden Fall vor dem Rathaus eine kurze Rast machen ... UND
    sich dort eine Bratwurst kaufen. Die schmeckt....... !
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