Auf der Münchner Wiesn platzen die Festzelte aus allen Nähten, in Wien beendet der Kenianer Eliud Kipchoge als erster Mensch einen Marathon in weniger als zwei Stunden und Corona ist ein medizinischer Fachbegriff, der maximal Virologen geläufig ist. Das alles war im Oktober 2019. Es ist außerdem der Monat, in dem André Lauenburger zum letzten Mal Geld verdient hat.
Seit sechs Monaten sitzt die Zirkusfamilie Lauenburger in ihrem Winterquartier in Wonfurt fest. Während der kalten Monate ist das für die Artisten normal, der Platz hinter dem Wonfurter Kindergarten ist seit 13 Jahren ihr Rückzugsort über die Jahreswende. Doch seit März wäre der Tross eigentlich schon wieder in Unterfranken unterwegs, um Freude in viele Gesichter zu zaubern - und um Geld zu verdienen. Wegen des Coronavirus ist beides nicht möglich.
Wenn ein Virus hart aufgebaute Existenzen bedroht
"Unsere Situation ist jetzt schon katastrophal", sagt Lauenburger. "Und sie wird von Tag zu Tag schlimmer." Es fehlt an Geld, Tierfutter und Lebensmitteln. Zusammen mit vier seiner fünf Kinder und seiner Frau betreibt der 45-Jährige den Familienzirkus bereits in der siebten Generation. "Wir haben uns viel aufgebaut. Uns ging es gut", erzählt Lauenburger beim Rundgang durch das menschenleere Zelt. Von der Traverse unter dem Dach hängt ein Artistikreifen herab, in der Manege steht ein treppenartiges Aluminiumgerüst. Kurz zuvor hat der Familienvater und Zirkusleiter noch Dressurübungen mit seinen sechs Zirkusziegen absolviert.
Die Rechnung in der Branche ist ebenso simpel wie in diesen Zeiten vernichtend: Wer Vorstellungen gibt, nimmt Geld ein. Wer das nicht tut oder aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen nicht darf, geht leer aus. Ein finanzielles Sicherheitsnetz gibt es nicht. "Es ärgert mich ungemein", sagt Lauenburger beim Schlendern durch die leeren Sitzreihen. "Schauen sie es sich doch an: Wir könnten die Zuschauer im Zelt locker mit Mindestabstand verteilen. Aber wir dürfen nicht - und im Baumarkt treten sich die Leute fast schon auf die Füße."
Keine staatliche Unterstützung für Artisten?
Kurzarbeit hat Lauenburger nicht beantragt - der Zirkus ist ohnehin ein reines Familienunternehmen ohne externe Angestellte. Den Antrag auf Soforthilfe durch Bund und Staat hat er abgegeben, Rückmeldung gab es bisher allerdings nicht. Wenig Hoffnung macht ein Schreiben der Gesellschaft der Circusfreunde: "Im Gegensatz zu Theater, Oper oder Ballett erhält der Zirkus keinerlei staatliche Unterstützung. Der traditionelle Zirkus ist einzig und allein vom Verkauf der Eintrittskarten abhängig." Das stimmt jedoch nicht. Wie Johannes Hardenacke, Pressesprecher der Regierung Unterfranken, dieser Redaktion bestätigte, sind Zirkusbetriebe nicht von der Soforthilfe ausgenommen. "Für sie gelten dieselben Voraussetzungen wie beispielsweise für Friseurbetriebe. Werden diese erfüllt, gibt es die Soforthilfe", so Hardenacke.
Auf dem Konto angekommen ist das Geld noch nicht, umso gnadenloser werden aber zum Monatsende Zahlungen fällig. Versicherungsbeiträge, Tierfutter, Lebensmittel für die Familie - die sowieso schon knappen Rücklagen der Freiberufler schwinden von Tag zu Tag. Zudem kommt die Krise für die Familie genau zur falschen Zeit. März, April und Mai sind die einträglichsten Monate - davor zu kalt, danach zu heiß, um sich in ein Zirkuszelt zu setzen. Je weiter das Jahr voran schreitet, desto kritischer wird es werden für Lauenburgers. Der nächste Winter ohne Einnahmen kommt bestimmt. "Wir sind wie Igel. Im Frühjahr und Sommer müssen wir uns finanzielle Reserven anfressen, bevor es kalt wird", erklärt Lauenburger beim Verlassen des Zelts.
Draußen auf der Grünfläche stehen Anhänger und Wohnwägen zwischen den drei Tiergehegen. Sie sind frisch gestrichen und lackiert. Überhaupt wirken der Platz und die Gerätschaften darauf extrem sauber und aufgeräumt. Die Winterzeit nutze die Familie, um Fuhrpark und Technik auf Vordermann zu bringen. "Alles mit diesen Händen", sagt der 45-Jährige, der als Artist, Mechaniker und Tierpfleger in Personalunion top in Form ist. Zumindest optisch - die täglich harte Arbeit fordert Tribut. Lauenburger hat Arthrose in sämtlichen Gelenken, im unteren Rücken hat er vor wenigen Monaten eine zentimeterlange Metallplatte verbaut bekommen. Langes Sitzen bei weiten Fahrten ist seitdem nur noch mit Schmerztabletten möglich.
Aufgeben kommt für das Familienoberhaupt aber nicht in Frage. "Zu Kriegszeiten haben die Nazis versucht, meinen Vater und den Zirkus von der Straße zu bekommen. Das haben die nicht geschafft, und Corona wird das auch nicht schaffen." Einzig, nichts gegen die Misere tun zu können, nagt am Artisten. "Wir sind fleißige Menschen. Aber wenn ich nicht arbeiten darf..." Lauenburger bricht ab. "Ich weiß mir langsam nicht mehr zu helfen."
Auch an seinen Kindern geht die Situation nicht spurlos vorbei. Der älteste Sohn ist inzwischen bei der Bundeswehr, die anderen vier helfen so gut sie können und trainieren, wenn die Schulsachen erledigt sind. "Wir sind eine Familie, deshalb ist der Zusammenhalt selbstverständlich", erzählt der 21-jährige Manoel, während seine Schwester Charlize am Artistikreifen in der Manege turnt. "Aber einfach ist es nicht. Die Situation ist brutal für uns."
Wie kann sich die Situation für die Zirkusfamilie verbessern? "Wir müssen spielen dürfen", sagt Lauenburger. Alles andere würde nicht viel bringen. Natürlich seien Lebensmittel- und Geldspenden überlebenswichtig - doch auf die wollen die Artisten gar nicht erst angewiesen sein. Den Unterhalt durch verkaufte Tickets für die Vorstellung verdienen: nicht mehr und nicht weniger. Hoffnung haben die Lauenburgers noch - und sechs Monate Zeit, bis der Winter kommt.
Eines kann ich Ihnen prophezeien: Im Vergleich zu den USA, dessen Präsident das Bestehen eines Corona Problems zunächst insgesamt geleugnet hat, wird Deutschland recht mäßig gerupft aus dieser Krise kommen.
Dieses erst nicht reagieren und dann der folgende Zickzackkurs sind wesentlich gefährlicher für eine Volkswirtschaft als unser stringentes Vorgehen in Deutschland.