
Wer in Ermershausen und Birkenfeld in den vergangenen Monaten seinen Blick gen Himmel auf die dortigen Kirchtürme gerichtet hat, konnte bei genauem Hinsehen feststellen, dass da etwas fehlt: die Spitzen der beiden Gotteshäuser. Die auf den Kirchtürmen montierten Wetterfahnen waren zuletzt nach Stürmen deutlich sichtbar in Schieflage geraten, wie Pfarrerin Christina Lungfiel berichtet. "Sie waren so schief, dass klar war, dass die Spitzen abgenommen werden müssen." Das Holz, in dem die Wetterfahnen stecken, war morsch. Im Sommer 2023 wurden die Kirchturmspitzen daher abmontiert.
Goldene Kugeln der Kirchturmspitzen ermöglichen eine Zeitreise
Vor wenigen Tagen nun kehrten sie auf die Kirchtürme zurück. Die Montage der Kirchturmspitzen erfolgte in luftiger Höhe: Der Kirchturm in Birkenfeld misst inklusive Wetterfahne 29 Meter. In Ermershausen sind es 33 Meter, wie Lungfiel berichtet. Der Austausch der Kirchturmspitzen ist jedoch nicht nur wegen des von unten aus betrachtet spektakulären Arbeitseinsatzes hoch oben etwas Besonderes. Er ermöglicht den Menschen vor Ort immer auch eine kleine Zeitreise.
Denn neben dem Kaiserstiel aus Eichenholz und der Wetterfahne haben die Kirchturmspitzen eine goldene Kugel, auch Turmknauf oder Turmknopf genannt. Diese fungiert mit alten Dokumenten und Ähnlichem befüllt als eine Art Zeitkapsel. In Ermershausen sei die Spitze zuletzt 1983 gewechselt worden, in Birkenfeld 1979, berichtet die Pfarrerin. Nun konnte also nach fast einem halben Jahrhundert wieder ein Blick in die Turmkugeln beider Kirchen geworfen werden.

Die historischen Dokumente sind dort in luftdichtverschlossenen Büchsen verwahrt. "Jedes Mal wenn die Spitze ab kommt, werden diese geöffnet, gesichtet und neu befüllt", erklärt Lungfiel. Eine Überraschung war der Inhalt indes für sie nicht, da im Pfarrarchiv hinterlegt ist, was sich in den Büchsen der Kugeln befindet. "Aber es ist trotzdem spannend zu sehen, wie zum Beispiel die Münzen aussehen oder wie die Dokumente erhalten sind."
Dokumenten-Schatz gibt Einblicke in längst vergangene Zeiten
In Birkenfeld, wo einst Graf Friedrich zu Ortenburg die Kirche erbauen ließ, war die goldene Turmkugel lange Zeit ein sicherer Platz für "sehr, sehr alte Dokumente", wie die Pfarrerin berichtet. Das Älteste stammt aus dem Jahr 1723. Die Originale würden aber nun schon längere Zeit im Pfarrarchiv aufbewahrt, ergänzt Lungfiel. Im Turmknauf befanden sich daher zuletzt Abschriften, die auf einer Schreibmaschine verfasst wurden. Diese seien wunderbar erhalten und erneut mit in die Büchse gegeben worden.

"Es ist interessant, die Dokumente aus alten Zeiten zu lesen", sagt Lungfiel. Diese würden in der Regel eine kurze Beschreibung der Kirchengemeinde sowie der allgemeinen politischen Lage zur jeweiligen Zeit enthalten. Auch Preise seien angegeben, zum Beispiel wie viel ein Brot oder ein Liter Milch kostete. Jedes Dokument sei für sich spannend.
Eine ihrer Lieblingsstellen ist auf einer Urkunde aus dem Jahr 1797 zu finden, wie Lungfiel verrät. Der Verfasser der Zeilen, der unter anderem von Krieg und einer Viehseuche berichtet, wünscht dort den Nachkommen, die sein Schreiben einst lesen werden, "wenn unsere Gebeine schon vermorscht sind", dass der Himmel ihnen glücklichere Zeiten verleihe und sie ruhig und in Frieden leben lasse.
Protest gegen die Gebietsreform ist in Turmkugel dokumentiert
In Ermershausen stammt das älteste Dokument aus dem Jahr 1902, wie die Pfarrerin berichtet. Es sei jedoch kaum noch lesbar. Da die Turmkugel dort zuletzt in der Zeit der Gebietsreform gewechselt wurde, als Ermershäuserinnen und Ermershäuser gegen die Eingemeindung nach Maroldsweisach protestierten, sei dies auch in den darin enthaltenen Dokumenten ausführlich dargelegt.
Das Ganze habe in Ermershausen außerdem zu dem Sonderfall geführt, dass nicht nur der damalige Pfarrer, sondern auch der Bürgermeister ein Schriftstück für die Büchse im Turmknauf der Kirche verfasste. Was man nun wieder so gemacht habe, ergänzt Lungfiel.

Mit in die Büchsen gegeben wurden nun unter anderem Euro-Münzen, der Gemeindebrief und eine aktuelle Ausgabe des Boten vom Haßgau, ebenso eine Auflistung der aktuellen Preise – von Kuhmilch bis Benzin. So dass in rund 50 Jahren, wenn turnusgemäß wohl wieder eine Erneuerung der Kirchturmspitzen ansteht, die Inhalte der Kugeln abermals eine kleine Zeitreise ermöglichen.